Bei seiner STANDARD-Tour entlang der Grenze zu Österreichs neuen EU-Nachbarn fotografierte Rudolf Semotan 2007 auch in Schöneben: den Weg zum Grenzübergang und die Kirche der Heimatvertriebenen.

Foto: Rudolf Semotan
Grafik: DER STANDARD

Ihr jüngster Bruder war fünf Jahre alt, er lief ihr noch ein Stück weit nach, den Berg hinauf. Sie sah ihn erst wieder, als er 27 Jahre alt und ein verheirateter Familienvater war. Denn mit 18 Jahren entschloss sich meine Oma, hinüberzugehen: von Südböhmen nach Oberösterreich. Das war am 11. November 1945. "Nach der Schule arbeitete ich in der elterlichen Landwirtschaft bis zum Umbruch der kriegerischen Wirren zwischen Tschechen und Deutschen. So wurden viele Jugendliche zur Zwangsarbeit ins Innere der Tschechei verschleppt. Da ich kein Wort Tschechisch konnte, flüchtete ich nach Österreich. Da es keine andere Möglichkeit gab, arbeitete ich wieder in der Landwirtschaft."

So stand es auf einem handgeschriebenen Zettel, den mein Onkel zwei Tage vor ihrem Tod am 5. Februar 2014 in einer kleinen Pappschachtel fand. Die 86-Jährige hatte alles für ihren letzten Weg vorbereitet. Das Fazit ihres Lebens fasste sie in gestochener Handschrift auf 15 Zeilen zusammen.

Der Bogen vom Krieg zum Frieden

Es war ein Leben, in dem sich die großen Umwälzungen in der europäischen Geschichte im Kleinen widerspiegelten. Nie hätte sie gedacht, dass Entscheidungen "einiger Großer, von denen man annimmt, dass sie auch gescheit sind", sich so auswirken, dass sich der Bogen vom Welt- über den Kalten Krieg zu einem gemeinsamen Europa in Frieden spannt.

Ihre Eltern und die sechs Geschwister, die später von Südböhmen mehrere hundert Kilometer weiter ins Erzgebirge ausgesiedelt wurden, ließ sie zurück. Ihr Bruder Ernst brachte in mehreren dunklen Nächten sechsstündige Fußmärsche hinter sich, um einen zerlegten Kasten und Geschirr über den Hochficht zu bringen, damit die Schwester auf der anderen Seite des Böhmerwalds in Klaffer nicht bei null anfangen musste.

Dass sie bis zu ihrer Heirat 1950 staatenlos war, erzählte sie erst in einem unserer letzten Gespräche. Und wie das war, als sie in die Bezirkshauptmannschaft Rohrbach musste, um sich ihre Papiere abzuholen: auf der anderen Straßenseite fast die ganze 20 Kilometer lange Strecke durchgehend eine Kolonne russischer Soldaten. Das Mühlviertel war bis 1955 russische Besatzungszone. Welche Ängste sie damals ausgestanden hat, darüber wollte sie auch mehr als ein halbes Jahrhundert später nicht reden.

Ein Haufen Steine für mich, Heimat für sie

Für Sudetendeutsche war es nicht leicht, in der neuen Heimat akzeptiert zu werden. Der Wunsch, wieder einmal nach Hause zu kommen, verließ sie nie. Daheim war nur zehn Kilometer Luftlinie weg, aber unerreichbar. Dazwischen war der Eiserne Vorhang. Ihr blieben jahrzehntelang nur Fotos und Erinnerungen, die alljährlich beim Treffen der Böhmerwäldler ausgetauscht wurden.

Im Jahr 1988 war es dann so weit: Wir - Oma, Opa, ihre Kinder, deren Partner und ich - bekamen Visa zur Einreise in die Tschechoslowakei. Der nächste Grenzübergang war rund fünfzig Kilometer entfernt. Wir mussten also einen Umweg von mehr als hundert Kilometern machen, um auf die andere Bergseite zu kommen, um endlich drüben zu sein. Wir fuhren ins Sperrgebiet, in den Grenzstreifen. Das Hundegebell ignorierten wir, von Wachtposten fühlten wir uns beobachtet, aber keiner hielt uns auf. Wir suchten ihr Heimatdorf und vor allem ihr Zuhause. Es standen aber nur noch wenige Häuser, wo einst eine große Ortschaft war.

Oma orientierte sich an Obstbäume und an einen Bach, denn ihr Elternhaus war einst die Hammerschmiede. Und durch diesen Bach marschierte sie, die sonst so auf ihr "gutes Gewand" achtete, in ihren Sonntagsschuhen - magisch angezogen von etwas, das für mich 17-Jährige nur ein Haufen Steine war - für sie ihre Heimat. Damals habe ich kapiert, dass Heimat unverrückbar ist, das Zuhause kann man wechseln.

Nicht einmal ein winziges Loch

Mit weitausladenden Gesten erzählte sie sprudelnd, wer wo gelebt hatte: Da stand jenes Haus und dort dieses. So erschien auf diesem Fleckchen Land, auf dem die Natur fast alle Zeichen der Besiedelung überwuchert hatte, für uns plötzlich wieder ein Dorfleben. Im Gestrüpp und in den von Unkraut überwucherten Hausresten suchten wir noch nach etwas, das in der neuen Heimat an die alte erinnern sollte.

Dass es nur ein Jahr dauern würde, bis der Eiserne Vorhang tatsächlich fiel, wussten wir damals nicht. Und wir glaubten es auch lange nicht. Der Tag, an dem in ORF Oberösterreich verkündet wurde, der Zaun sei offen, machten wir - mein Vater, meine Mutter, mein Bruder und ich - uns auf den Weg - auf Langlaufskiern. Kilometerweit: nicht einmal ein winziges Loch. Enttäuscht kehrten wir an dem Tag zurück.

Wenige Wochen später wurde tatsächlich mit dem Abbau des Stacheldrahts begonnen, mit dem, was meine Oma immer wieder als "Wunder" bezeichnete. Dass man wirklich plötzlich hinüberkonnte - auch wenn das in der Realität noch immer weit weg war. Es gab nun die grüne Grenze. Über die Eröffnung des ersten Übergangs für Fußgänger zwischen Oberösterreich und der Tschechoslowakei, die es damals noch gab, erschien mein erster Bericht für den Standard am 6. Juni 1990.

Mit Blasmusik, auf Bierbänken

Einen nahen Straßenübergang für Autos gab es noch jahrelang nicht. Trotz des Umwegs machten viele Ausflüge nach drüben, weil sie neugierig waren - und weil es billig Torten zu kaufen gab. Der Moldaustausee wurde zum Naherholungsgebiet. Umgekehrt wurde auf die Tschechen mit ihren "stinkenden Autos" geschimpft, und die Gefahr von Einbrüchen wurde an Stammtischen diskutiert. Inzwischen haben viele Tschechen schickere Autos als ihre Nachbarn, wenn sie über Schöneben ins Skigebiet Hochficht anreisen.

Zu echten EU-Nachbarn wurden die Tschechen mit dem Beitritt am 1. Mai 2004. Das wurde in Schöneben, wo sich jahrzehntelang Heimatvertriebene getroffen haben, gefeiert: mit Blasmusik, auf Bierbänken sitzend, mitten auf der grünen Wiese. Die Kommunikation klappt damals wie heute, weil viele Tschechen zumindest einige Worte Deutsch können.

Mit einem riesigen Feuerwerk war hingegen in der Nacht zuvor zwischen Frankfurt/Oder und dem polnischen Nachbarort Slubice die EU-Erweiterung gefeiert worden. Über den Kontrast der beiden Veranstaltungen an 577 Kilometer entfernt liegenden Orten berichtete ich für den Standard. Damals, 2004, war ich noch Deutschland-Korrespondentin, und Berlin war mein Zuhause geworden. 2005 wechselte ich nach Brüssel als EU-Korrespondentin, dorthin, wo nach Meinung meiner Oma "wirklich etwas entschieden wird", aber "alles sehr kompliziert ist". Sie hatte recht. Die EU ist ein Projekt im Werden.

Als am 21. Dezember 2007 der Schengenraum erweitert wurde und die Schlagbäume fielen, fuhr ich wieder nach Schöneben - allein schon wegen meiner Oma. Damit, dass sie einfach so hinüberfahren konnte ohne intensive Kontrollen, es keinen Zaun und keinen Schlagbaum gab, ist ein Traum für meine Oma in Erfüllung gegangen. Nicht nur für sie. (Alexandra Föderl-Schmid, DER STANDARD, 24.5.2014)