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Karl Georg Zinn: "Es geht um kollektives Versagen. Man muss nur nach Afrika blicken, auf die Hungersnöte und die damit einhergehenden Konflikte. Das sind Ressourcenkonflikte, die uns als ethnische oder religiöse Konflikte verkauft werden."

Foto: ap/Alaa al-Marjani

Ist die Welt noch zu retten? Noch nie währte Massenarbeitslosigkeit so lange wie heute, die globalen Probleme nehmen zu, Mahnungen wie die von John Maynard Keynes verhallten ungehört, meint Ökonom Karl Georg Zinn.

derStandard.at: Einkommen und Wohlstand sind heute immer ungleicher verteilt. Doch über Umverteilung zu diskutieren ist immer noch tabu, oder trügt der Schein?

Zinn: Das kapitalistische Wachstum hat die Verteilungsungleichheit stetig vergrößert. Knapp 17 Prozent der Weltbevölkerung ziehen mittlerweile weit mehr als die Hälfte der globalen Wertschöpfung auf sich. Aber steigert jemand, der ohnehin über ein auskömmliches Einkommen verfügt, wirklich mit noch größerem Konsum seine Lebensqualität? Ich halte es sinngemäß gerne mit dem französischen Aufklärer Jean-Jacques Rousseau: "Verteilung heißt, dass niemand so reich ist, dass er andere kaufen kann, und niemand so arm, dass er sich verkaufen muss."

derStandard.at: Wie kann die Lebensqualität demnach gesteigert werden?

Zinn: Die Frage ist, ob es uns nicht besser gehen würde, wenn allmählich entsprechend der Produktivitätsentwicklung die Arbeitszeit verkürzt wird. De facto gibt es diese ja schon. Wenn man die im Schnitt im Leben geleisteten 40.000 Stunden auf 70 Jahre verteilt, ergibt sich ein anderes Quantum, als wenn man dieses wegen der gestiegenen Lebenserwartung auf 80 Jahre verteilt.

derStandard.at: Das Wachstum selbst ist also zum Problem geworden?

Zinn: Über Wachstum können wir die heutigen Probleme nicht mehr lösen. Verteilungsgleichheit heißt natürlich nicht völlige Nivellierung. Die Frage ist vielmehr, was noch eine human vertretbare Differenzierung ist. Stattdessen sehen wir, dass gerade im unproduktivsten Bereich – dem Finanzkapitalbereich nämlich – die höchsten Spitzeneinkommen gezahlt werden. Notwendig wäre ein Bewusstseinswandel, damit die Bevölkerung energischer nach Verteilungsgerechtigkeit strebt und Druck auf die Politiker ausübt. Ob dies gelingt, ist fraglich, wie man gerade am Beispiel zur Bankenrettung gesehen hat: Die Politik ist weitgehend durch das Finanzkapital erpressbar geworden, der Öffentlichkeit wird gleichzeitig eingeredet, es gäbe keine Alternativen.

derStandard.at: Kann man in unseren Demokratien von "Wachstumsfetischismus" sprechen?

Zinn: Fetischismus ist natürlich etwas metaphorisch. Ich denke aber schon, denn die Mehrheit meint trotz aller Verunsicherung immer noch, ohne Wachstum fehlten die Arbeitsplätze. Die Vorstellung, man könne fast alle sozioökonomischen Probleme lösen, indem man die Wachstumsmaschine anwirft, ist fatal.

Der berühmte englische Ökonom John Maynard Keynes hatte in den 1930er- und 1940er-Jahren klar vorhergesehen, dass die hoch entwickelten Länder unvermeidlich sinkende Wachstumsraten erleben werden. Diese Prognose wurde von der realwirtschaftlichen Entwicklung klar bestätigt. Seit etwa 30 Jahren blieb das Wachstum schwach – viel zu schwach, um auf dem Wachstumspfad zur Vollbeschäftigung zurückzukehren. Eine so lange Phase – sie entspricht einer Generation – mit Massenarbeitslosigkeit hatten die industrialisierten Länder zuvor noch nicht durchstehen müssen. Selbst während der großen Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre währte die Massenarbeitslosigkeit "nur" etwa zehn Jahre, ehe sie dann mit dem Zweiten Weltkrieg abrupt beendet wurde

derStandard.at: Tragischerweise trifft es in vielen Ländern vor allem die Jungen.

Zinn: Die junge Generation von heute wird unter Verhältnissen sozialisiert, in denen Massenarbeitslosigkeit inzwischen als etwas Normales wahrgenommen wird. Drei Jahrzehnte Massenarbeitslosigkeit sind, wie gesagt, bisher einmalig. Dass es nicht zu heftigsten Massenprotesten kam und kommt, ist nicht zuletzt der ideologischen Propaganda geschuldet, es gäbe keine Alternative zur neoliberalistischen Rücksichtslosigkeit. Die Bevölkerung scheint mir zu subalternen, politisch wenig aktiven Bürgern gemacht zu werden. Es fehlt aber auch an der Aufklärung über wirtschaftspolitische Alternativen.

derStandard.at: Auch in diesem Zusammenhang zitieren Sie gerne Keynes.

Zinn: Vom Keynesianismus wurden völlig verkürzte und verzerrte Vorstellungen verbreitet. Es ist faktisch unbekannt, dass Keynes weit mehr als nur antizyklische Konjunkturpolitik gegen Arbeitslosigkeit vorgeschlagen hatte. Gerade bei dauerhaft niedrigem Wachstum, wie es seit drei Jahrzehnten zur Regel wurde, sind weitreichende verteilungs- und arbeitszeitpolitische Maßnahmen unabdingbar. Der "langfristige" Keynesianismus, der sich mit dem Problem befasst, wie Vollbeschäftigung auch ohne Wachstum erreicht werden kann, blieb bisher auch noch vielen "Keynesianern" ein Buch mit sieben Siegeln.

Keynes nahm bereits 1930 viele Erkenntnisse vorweg, die erst in jüngerer Zeit von der ökonomischen Glücksforschung als Neuigkeiten quasi wiederentdeckt wurde. Beispielsweise die Tatsache, dass oberhalb einer kritischen Einkommenshöhe beziehungsweise eines kritischen Konsumniveaus kaum noch eine merkliche Steigerung der Zufriedenheit, der Lebensqualität erfahren wird. Es dürfte auch jedem mit gesundem Menschenverstand einleuchten, dass auf einem "unvermehrbaren" Planeten kein endloses Wirtschaftswachstum und auch kein endloses Bevölkerungswachstum möglich sind. Von der humanen Unsinnigkeit des Wachstumsfetischismus gar nicht zu reden. Keynes hatte das alles schon vor Jahrzehnten erkannt, aber nach wie vor hängen auch viele Keynesianer noch am Wachstumsparadigma.

derStandard.at: Haben Sie dafür eine Erklärung?

Zinn: Keynes Überlegungen waren so visionär, dass er vielerorts als "Spinner" abgetan wurde. 1943, also mitten im Krieg, findet sich in dem kurzen Keynes-Text über "Das langfristige Problem mit der Vollbeschäftigung" unter anderem die Empfehlung, bei dauerhaft niedrigen Wachstumsraten und Massenarbeitslosigkeit Arbeitszeitverkürzungen vorzunehmen.

Wer Keynes' Langfristprognose von 1943, die seit einigen Jahren auch in deutscher Übersetzung vorliegt, zur Kenntnis nimmt, dem werden die Augen weit aufgehen – und der Verstand wird ein freudiges Aha-Erlebnis bescheren. Doch gerade wegen dieses Aufklärungspotenzials besteht bei den Status-quo-Verteidigern, den Wachstumsfetischisten, überhaupt keine Neigung, sich mit dem "Revolutionär" Keynes seriös zu befassen. Deshalb ist jener Text von 1943 bisher fast nur in Insiderkreisen bekannt und der Politik zu brisant.

derStandard.at: Das heißt, wir treiben unsere globalen Probleme selber voran?

Zinn: Jedes der Probleme wird drängender, indem wir weitermachen wie bisher und wachsen. Es geht um kollektives Versagen. Die Katastrophe hat schon begonnen. Man muss nur nach Afrika blicken, auf die Hungersnöte und die damit einhergehenden Konflikte. Das sind Ressourcenkonflikte, die uns als ethnische oder religiöse Konflikte verkauft werden. Sprich, in Wahrheit geht es um die ständige Verknappung von Lebensmöglichkeiten.

Die Perversion zeigt sich beispielsweise in den fröhlichen Musikdampfern im Mittelmeer, während in derselben Region gleichzeitig Menschen ertrinken. Die arme Bevölkerung drängt in die reicheren Regionen. Nimmt diese Entwicklung quantitativ noch größere Ausmaße an, wird es zu einem brutalen Sozialdarwinismus kommen. Ansätze spüren wir bereits jetzt, aber es wird sich noch ganz anders auswirken. Hinzu kommen noch die klimatischen Veränderungen, ich schätze, in zehn bis 15 Jahren wird das noch deutlicher sichtbar – bis zur Mitte des Jahrhunderts werden große Katastrophen eintreten, wenn nicht heute, besser vorgestern Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. Leider lässt sich das Vorgestern nicht mehr nutzen.

derStandard.at: Vieles ist bereits heute sichtbar.

Zinn: Durch die enge Besiedlung wirken sich Naturkatastrophen selbst in hoch entwickelten Ländern immer verheerender aus. Man denke nur an den Tsunami in Japan. 30 Millionen Menschen, so die Bevölkerungsgröße im Raum Tokio, kann man nicht einfach evakuieren; die kann man nur belügen, indem man sagt, es sei alles nicht so schlimm. Hinzu kommt, dass infolge von Korruption und kapitalistischer Interessenpolitik der Regierung das technisch Machbare nicht gemacht wurde.

derStandard.at: Neben dem kapitalistischen Wachstum nimmt zudem, wie Sie schon angesprochen haben, die Weltbevölkerung rasant zu.

Zinn: Die Weltbevölkerung hat sich in der vergangenen 250 Jahren fast verzehnfacht – von 750 Millionen auf weit über sieben Milliarden. Doch das demografische Weltproblem gehört zu den Tabus – auch bei einem Teil der progressiveren Zeitgenossen. So deutlich, wie der Engländer Stephen Emmott in seinem jüngsten Buch "Zehn Milliarden" auf die fast unausweichliche Katastrophe hinweist, wagt das kaum jemand. Die "Linken" meinen, Warnungen vor Übervölkerung mit einem längst überholten Anti-Malthusianismus abweisen zu können, die "Rechten" sind ohnehin nicht geneigt, bevölkerungspolitische Interventionen als notwendig anzuerkennen.

Im Hinblick auf das Tragfähigkeitsproblem, also die globale Ernährungsfrage für demnächst acht, neun oder zehn Milliarden Menschen, bin ich so etwas wie ein pessimistischer Optimist. Man kann eine bessere Welt herstellen: Alles, was mit den Naturgesetzen im Einklang steht, ist möglich, kann man machen, aber die Menschen müssen es wollen und die Politik zwingen, die notwendigen Reformen zu machen. Bezüglich der technisch-wirtschaftlichen Lösbarkeit der vorstehenden Probleme bin ich optimistisch und zuversichtlich. Doch die politische Trägheit und die kapitalistische Bereicherungsgier einer kleinen Oligarchie mit großem politischem Einfluss stehen allem Optimismus entgegen. Vermutlich wird sich das erst etwas ändern, wenn der Eintritt der vermeidbaren Katastrophen quasirevolutionäre Erschütterungen ausgelöst haben wird. (Sigrid Schamall, derStandard.at, 27.5.2014)