Roman Sandgruber hat über die Einkommen der Millionäre zur Jahrhundertwende geforscht.

Kehrt die Ein-Prozent-Gesellschaft wieder? Eine Frage, die nicht nur Roman Sandgruber bewegt. Aber ihn auch. "Traumzeit für Millionäre" heißt das Buch, in dem der Historiker das bewegte und äußerst erfolgreiche Fin de Siècle in Wien beschreibt. Die Stadt, die im Jahre 1910 die Zweimillionengrenze überschritten hatte, war zur viertgrößten Europas angewachsen und immerhin zur siebtgrößten der Welt: Ein Schmelztiegel der Nationen, eine Hochburg der Künste und Wissenschaften, die Stadt der Träume – und der Millionäre. Es sind etwa 1.000 an der Zahl, die die Spitze der Gesellschaft bildeten: Das Kaiserhaus – das Szepter hatte noch Franz Joseph -  hohe Adelige und Rentiers, Bankleute, Großhändler und Industrielle, ein paar Baumeister, ein paar Künstler, Wissenschaftler und Ärzte, kaum Politiker und Beamte, eine Reihe von Witwen und reiche Erbinnen und ein Kardinal.

Glanzvoll und berühmt wie diese Epoche ist, kennt man die Leistungen, die Protagonisten. Wien glänzte als Mekka der Medizin, die Grundlagen von Physik und Chemie wurden neu definiert. In Geschichte, Ökonomie, Soziologie, Rechtswissenschaften, überall wurden Höchstleistungen vollbracht. Die Kunst war im Umbruch. Adolf Loos setzte dem Kaiser direkt vor die Hofburg sein Haus ohne Schnörkel und Zierrat vor die Nase, Arthur Schnitzler, der einflussreichste und umstrittenste Dichter der Epoche, provozierte Theaterskandale. Arnold Schönberg komponierte nie gehörte Musik, Sigmund Freud hatte Stoff genug, um in die Seelen zu schauen.

Einkommen und Vermögen

Die sozialen Strukturen der Habsburgermonarchie zwischen 1848 und 1918 sind gut beschrieben. Auch für die soziale Frage hat man sich interessiert und den Wandel von der Stände- zur Klassengesellschaft gut beschrieben. Dass "Klassen" auch etwas mit Einkommen und Vermögen zu tun haben, kommt allerdings nicht zum Ausdruck. Fragen nach Einkommen und Vermögen sind in Österreich offensichtlich nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in historischer Perspektive in hohem Maße tabuisiert, sagt Sandgruber im Gespräch mit derStandard.at.  "Ich wollte das zurecht rücken."

Sandgruber hat sich durch einen Zahlenberg gearbeitet, durch Einkommensteuerdaten, die noch nie jemand gesichtet hat, "die aber damals in ungeheurer Fülle publiziert wurden", wie er sagt. "Das Finanzministerium hat zwischen 1898 und 1913 jedes Jahr zwischen 500 und 1000 Seiten Einkommenssteuerstatistiken veröffentlicht." Parallel dazu konnte er auch Namenslisten der höchsten Einkommensbezieher mit den zugehörigen Einkommenssteuerangaben verwerten.

Wer zur ersten Gesellschaft gehörte

Die Kopie einer Namensliste der 929 höchsten Steuerzahler Wiens und Niederösterreichs im Jahr 1910 erlaubte es ihm, ein Sozialprofil zu erstellen. Doch wer gehörte zum Kreis der reichsten Wienerinnen und Wiener, die die "erste" und "zweite" Gesellschaft der untergehenden Habsburgermonarchie bildeten und gleichzeitig ihren kulturellen und alltäglichen Glanz und Nachklang formten? Wer waren sie, die Reichen, welchen Alters- oder Geschlechtsklassen gehören sie an, welchen Berufsgruppen. Bankiers gehörten nicht überraschend dazu, doch auch Kohlehändler, Textilbarone, Bautycoone und Professoren sind unter den Reichen anzutreffen.

Ganz an der Spitze der Einkommenspyramide stand Baron Albert Salomon Rothschild aus der dritten Generation der österreichischen Rothschild. Er versteuerte 1910 ein Jahreseinkommen von 25,7 Millionen Kronen. Rothschild als Einzelperson verdiente damit etwa ein Prozent aller Einkommen in Wien und versteuerte mehr als die fast hundert Wiener Einkommensmillionäre aus altem Adel zusammen. Auch mehr, als Österreich-Ungarn dem habsburgischen Herrscherhaus für die Hofhaltung und alle Apanagen jährlich aus dem Staatshaushalt beider Reichshälften zukommen ließ. Albert Baron Rothschild war damit der reichste Mann Europas, reicher als die damals reichste Deutsche, Bertha Krupp, mit einem Jahreseinkommen von 20 Millionen Kronen.

Auch der Aufstieg war möglich

An zweiter Stelle der Einkommensliste von 1910 stand nach Rothschild mit Theodor Taussig ein Bankmanager: Sein Jahreseinkommen ist mit 4,9 Millionen Kronen allerdings weit abgeschlagen. Bankmillionäre finden sich noch zahlreiche an der Spitze der Einkommensbezieher. Nicht alle kamen übrigens aus begütertem Milieu. Einige schafften den Aufstieg von ganz unten. Gewinnabhängige Boni und Einkünfte aus Verwaltungsratssitzen fetteten damals schon die Grundgehälter kräftig auf. Nirgendwo machte man allerdings sein Vermögen so rasch wie im Handel.

150 der 929 Millionäre oder 16,1 Prozent waren dem Bereich Handel und Verkehr zugeordnet. Ihr Durchschnittseinkommen lag leicht über dem der Industriellen, aber deutlich unter dem der Bankiers und der Großgrundbesitzer. Aber ihr Vermögen war oft innerhalb weniger Jahre erwirtschaftet worden. Der Berliner Unternehmer, Kunstmäzen und Philanthrop Eduard Arnhold machte nach seinen Aufstieg vom mittellosen Lehrling eines Kohlenhändlers mit Steinkohle viel Geld. Er zählte zu den fünf reichsten Berlinern und rangierte auch in Wien unter den zehn größten Einkommenssteuerzahlern. 1910 versteuerte er in Wien ein Jahreseinkommen von knapp 1,3 Millionen Kronen. Die Liste der großen Vermögen, die in Österreich durch Handel geschafften wurden, umfasst auch heute noch bekannte Namen wie Meinl, Hermansky oder Gerngroß.

Erste große Globalisierungswelle

Darüber hinaus zeichnet Sandgruber ein Gesellschafts- und Sittenbild:  Die Traumzeit für Millionäre – die mit Krieg, Hyperinflation, Weltwirtschaftskrise und der Vernichtung der jüdischen Gesellschaft durch den Nationalsozialismus ein jähes Ende nahm – die Ein-Prozent-Gesellschaft – war geprägt von extremer Ungleichheit der Einkommen und Vermögen. Es ist die Zeit der ersten großen Globalisierungswelle, die mit den Dampfschiffen und den Eisenbahnlinien vor dem ersten Weltkrieg anlief. Man konnte ohne Probleme Fleisch aus Argentinien importieren, hat Baumwolle und Kaffee über die ganze Welt verschickt, konnte bereits telegrafieren und auch schon telefonieren. "Jede Zeit mit einem so ungeheuren technischen Fortschritt begünstigt Einkommenskonzentration", sagt Sandgruber. Auch eine lange Friedenszeit, wie es sie vor dem ersten Weltkrieg gegeben hat, trug dazu bei.

"Traumzeit für Millionäre" ist ein wundersames Buch, das sich nicht nur an Zahlen und Fakten hält, sondern auch jede Menge Stoff darüber hinaus bereit hält. Ganz wie es sich für die Thematik geziemt. Wer liest nicht gerne über die Marotten der Schönen und Reichen? Hermann Horwitz – zum Beispiel – war ein sonderlicher Mensch, Bankier, äußerst wohlhabend und an Verarmungsneurose leidend. Immer wieder, manchmal sogar mitten in der Nacht soll er aufgestanden sein, um sich seines Vermögens zu vergewissern.  Der Mann litt gewissermaßen unter dem Dagobert-Duck-Syndrom. Doch während sich letzterer bekanntlich mit dem Bad in Münzen und Scheinen Linderung verschaffte, trieb der Wahn Horwitz in den Selbstmord. Auch Sigmund Freud, der damals eher zu den Gutverdiener gezählt hatte, fühlte sich unterbezahlt, beklagte imaginären Geldmangel, obwohl er ausgesprochen gut verdiente und zu den sehr wohlhabenden Wienern gehörte. Derartige Neurosen – so heißt es in dem Buch – seien im Wien um 1900 relativ häufig gewesen.

Reich sein und arm werden

Reich zu sein und arm zu werden – beherrschte die Träume und Ängste des Fin de Siècle. Reichtum wurde seither nie mehr so unverhüllt und demonstrativ zur Schau gestellt wie um 1900: Mit riesigen Villen, vielen Dienstboten, großen Autos, teuren Pferden, weiten Reisen. Geld bestimmte aber auch das Gesellschaftsleben. Die Hofgesellschaft und das Großbürgertum belauerten einander und konkurrierten um Macht, Image und Einfluss. Der Adel verstand sich als die erste Gesellschaft und gab sozial den Ton an. Ökonomisch stand er schon im Schatten der zweiten Gesellschaft, der alten und neuen Großbürger, auf die sich der Großteil des Reichtums konzentrierte.

Dass der Glanz auf Kosten der weniger Begüterten geht, versteht sich fast von selbst:  Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit lag bei rund 60 Stunden, die soziale Absicherung war nicht genügend, die Wohnungsnot ungelöst, Urlaub gab es kaum, eine Krankenversicherung nur für Industriearbeiter, Handelsangestellte und Staatsdiener, eine Altersversicherung überhaupt nur für Angestellte und Staatsbedienstete, eine Arbeitslosenversicherung für niemanden. Die Teuerung erreichte die städtischen Massen, Streiks wurden vehement bekämpft, Landflucht war ein Thema, auch die Bauern bangten um ihre Existenz, immer mehr Höfe wurden von so genannten Güterschlächtern aufgekauft und ihre Äcker und Wiesen zu Jagdrevieren aufgeforstet. 1907 war eine neue Epoche der Politik angebrochen: Das allgemeine Wahlrecht – das damals nur für Männer galt – wurde eingeführt. Die Stunde der Massenparteien und Massenbewegungen hatte geschlagen.

Echte und imaginäre Grenzen

Das Aufrichten von Grenzen schreibt Sandgruber – realen wie imaginären – sei das Hauptcharakteristikum der Epoche: Der Adel schottete sich vom übrigen Volk ab, der Erbadel vom Briefadel, die Nichtjuden von den Juden, die Katholiken von den Evangelischen. Die Oberschicht: Tief gespalten. Am Hofball des Kaisers traf sich die aristokratische Elite, am Ball des Bürgermeisters die Klientel Karl Luegers, der damit die Vorstellung eines gesellschaftlich gleichwertigen Widerparts zur exklusiven Hofgesellschaft vermitteln wollte. Die jüdische Geldaristokratie, immerhin fast zwei Drittel der Millionäre, war nirgends beheimatet. Der Kaiser und die Hocharistokratie schlossen sie stillschweigend aus, das kleinbürgerliche Wien um Karl Lueger hetzte gegen sie. Albert Rothschild, dem Reichsten der Reichen, war zwar der Zutritt zum Hof gewährt worden, für einen Händedruck des Kaisers reichte es nie. (rebu, derStandard.at, 27.5.2014)