Philipp (2. von rechts) und Lucas sind Schulkollegen in der Caritas-Sonderschule für schwerstbehinderte Kinder. Philipp ist Autist, Lucas hat Down-Syndrom mit Autismus. Eine Integrationsschule sei beiden nicht zuzumuten, sagen ihre Mütter Margit Hödel (re.) und Jutta Sobolak.

Foto: Regine Hendrich

Wien - Der Blickkontakt währt nur einen Moment lang. Aber Hund Mo versteht sofort: "Komm zu mir." Flüchtig, aber zärtlich berührt Philipp den Kopf von Mo im Vorübergehen, ohne ihn dabei anzusehen. Dann verliert sich Philipp wieder in seinen kleinen grünen Computer, den er nicht aus der Hand gibt. Gebannt starren die Augen aufs Display. Die Welt um sich herum scheint er ausgeblendet zu haben.

Eben ist Philipp aus der Schule nach Hause gekommen. Was er heute erlebt und gelernt hat, kann der Zwölfjährige seiner Mutter Margit Hödel nicht erzählen. Denn Philipp redet fast nichts, die Kommunikation erfolgt über weite Strecken nonverbal. Philipp ist frühkindlicher Autist, der Grad der Behinderung liegt bei 100 Prozent. "Einmal ist Philipp von der Schule nach Hause gekommen", erzählt seine Mutter. "Da hat er gesagt: 'Pauli, böse.' Pauli ist Philipps bester Freund. Pauli hat sich an diesem Tag nicht von ihm verabschiedet. Davon hat mir Philipp erzählt. Das war für mich eines der schönsten Erlebnisse."

40 Schulkinder

Philipp besucht als eines von 40 Kindern eine Sonderschule für schwerstbehinderte Kinder der Caritas Wien. Sie befindet sich am Himmel, einem idyllischen Platz am Pfaffenberg hoch über Wien und mitten im Grünen. Mit den Kindern arbeiten Pädagogen mit speziellen Zusatzqualifikationen wie Sprachheilpädagogik, Montessori, Waldpädagogik, Gebärdensprache oder diversen Sportausbildungen.

Eine eigene Zeitung (Waldpost) und wöchentliche Foto-Berichte von engagierten Pädagogen halten die Eltern auf dem Laufenden. Anfang Mai stand die Pusteblume im Mittelpunkt: Fotos zeigen lachende Kinder, die die Entwicklungsstufen des Löwenzahns spielerisch erlebten. Blüten wurden für die Produktion eines Löwenzahnhonigs gesammelt. "Unser Kind kann uns davon nicht erzählen", sagt Hödel. "Aber so bekommen wir das mit."

Am vergangenen Wochenende feierte die Caritas-Schule ihr 30-jähriges Bestehen. Wenige Tage davor wurde den Eltern mitgeteilt, dass die Sonderschule geschlossen und in eine Inklusionsschule umgewandelt wird - der Standard berichtete. Ab Herbst 2016 werden Kinder mit und ohne besondere Bedürfnisse eine gemeinsame Ganztagsschule besuchen. Mittels Team-Teaching in den Klassen sollen Kinder individuell gefördert werden. Sie sollen aber auch soziale Kompetenzen im Umgang miteinander lernen.

Die Schließung der Sonderschule heißt aber auch, dass trotz Aufnahmestopps Eltern von 27 schwerstbehinderten Schulkindern am Himmel bis 2016 neue (Integrations-)Schulen für ihre Kinder suchen müssen.

Verzweifelte Eltern

Die Caritas wird die Eltern bei ihrer Suche "nicht alleine lassen", sagt Klaus Schwertner, Geschäftsführer der Caritas Wien. Am Konzept für die Inklusionsschule werde man gemeinsam mit den Eltern arbeiten. Wird keine neue Schule gefunden, könnten einige Kinder auch am Himmel bleiben.

"Die Eltern sind verzweifelt", sagt Margit Hödel, die auch Elternvereinsobfrau ist. "Mütter sind zu mir gekommen und haben mir seitenlange Listen mit Schulen gezeigt, die ihr schwerstbehindertes Kind abgelehnt haben. Für viele war die Sonderschule am Himmel buchstäblich Endstation."

Auch Philipp musste nach einem halben Jahr in einer Integrationsklasse aus der Schule herausgenommen werden. Das Krähen und Quietschen von Philipp ließ sich eben nicht einfach so abstellen. "Die Pädagogen waren überfordert", sagt Hödel. "Während die Kinder Unterricht hatten, sortierte Philipp den ganzen Tag Bohnenlinsen im Kübel."

Inklusion bedeutet, alle Menschen gleich wertzuschätzen und in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Wie die Caritas als Privatschulanbieter setzt auch die heimische Politik immer mehr auf Inklusions- statt auf Sonderschulen. Hintergrund ist eine UN-Konvention, die die Unterzeichnerstaaten dazu verpflichtet, die Menschenrechte von Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu fördern und mehr Partizipation zu ermöglichen. Österreich hat die Konvention 2008 unterschrieben.

"Ich bin nicht gegen das Konzept", sagt Margit Hödel. Jutta Sobolak pflichtet bei. Auch Sobolaks Sohn Lucas besucht die Caritas-Sonderschule. Der 15-Jährige hat Down-Syndrom mit Autismus. "Für Philipp und Lucas ist die Sonderschule aber schon jetzt eine Inklusionsschule", sagt Hödel. Sie könnten von Lehrern und von Kindern mit anderen besonderen Bedürfnissen lernen.

Kartoffelschälen

Da geht es um Dinge wie Händewaschen oder Kartoffelschälen. "Philipp hat sich so gefreut", sagt Hödel. "Zu Hause gab es wochenlang Kartoffelsuppe zu essen." Ein schwerhöriger Freund von Philipp, sagt Philipps Vater Peter Minar-Hödel, konnte dem Zwölfjährigen sogar ein paar Sätze Gebärdensprache beibringen.

Bei Familie Hödel wird der Inklusionsgedanke gelebt. Philipps siebenjähriger Bruder Manuel besucht eine Integrationsklasse und kann die Erfahrungen mit Philipp für soziale Kontakte mit anderen Kindern mit besonderen Bedürfnissen nutzen. Schwester Katharina, 14 Jahre alt, besucht eine AHS-Unterstufe. Freunde, die sie mit nach Hause nimmt, prüft sie auf soziale Kompetenz. "Wer Philipp nicht akzeptiert, akzeptiert mich auch nicht", sagt Katharina.

Nicht zu verantworten

Eine Beschulung ohne intensive Betreuung von engagierten Pädagogen wie am Himmel könnte die Entwicklung ihrer Kinder Philipp und Lucas gefährden, befürchten Margit Hödel und Jutta Sobolak. Eine Integrationsschule für Lucas, der noch drei Schuljahre vor sich hat, sei laut Sobolak unmöglich zu verantworten. Nicht für Lucas und auch nicht für die anderen Kinder in der Klasse ohne besondere Bedürfnisse. Sobolak: "Und wohin soll ich meinen Sohn dann geben, wenn es keine Sonderschule für ihn mehr gibt?" (David Krutzler, DER STANDARD, 28.5.2014)