Romand Sandgruber: Wenn die Einkommen ganz gleich verteilt sind, so wage ich zu behaupten, dass das zu weniger künstlerischen, kulturellen und wissenschaftlichen Spitzenleistungen beiträgt.

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Eine "Reichtumsuhr" vor der Frankfurter Bankenkulisse, im Jahr 2011 sollte damit auf die Verteilung der individuellen Nettovermögen in Deutschland aufmerksam gemacht werden.

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STANDARD: Die Vermögens- und Einkommensverteilung war vor dem Ersten Weltkrieg nirgendwo in der Habsburgermonarchie so ungleich verteilt wie in Wien. Heute diskutieren wir wieder über eine Vermögenssteuer. Was ist gerecht?

Sandgruber: Eine ganz gleiche Gesellschaft ist eine Utopie, sogar eine schlechte Utopie. Aber eine sehr ungleiche Gesellschaft ist sozial und ethisch unerträglich. Man muss den Mittelweg finden. Vor dem Ersten Weltkrieg verstärkte die Besteuerung die Ungleichheit. Die Progression der Einkommenssteuer war ganz niedrig, und die indirekten Steuern betrafen Grundbedürfnisse. Auf ein Auto zahlte man keine Steuern, auf Tabak, Zucker und Salz sehr wohl. Damals war das keine Mehrwertsteuer, sondern eine Steuer auf einzelne Produkte. Das war sehr ungerecht. Auch ein Rothschild verbrauchte nicht mehr Salz als eine Haushaltshilfe.

STANDARD: Die USA haben eine hohe Vermögensbesteuerung und eine niedrige Einkommenssteuer. Trotzdem gibt es eine hohe Vermögenskonzentration. Ist eine Vermögensabgabe damit nicht obsolet?

Sandgruber: Sie wird nicht für volle Gerechtigkeit sorgen. Aber eine gewisse Vermögensbesteuerung hat schon Sinn. Was die Ökonomie immer kritisiert hat und auch heute kritisieren müsste, sind die Einkommen, die ohne Arbeit, nur aus Vermögen entstehen. Die Amerikaner haben hohe Vermögens- und Erbschaftssteuern. Wir haben gar keine Erbschaftssteuer. Wenn ich Arbeit sehr hoch besteuere und arbeitsloses Einkommen relativ niedrig, dann passt das mit der ökonomischen Theorie nicht zusammen. Man müsste Lohnarbeit etwas entlasten und könnte bei den Vermögen ein bisschen die Schraube anziehen. Die Befürchtung, dass dann erst recht die kleinen Vermögen angeknabbert werden, teile ich aber auch.

STANDARD: Sie hatten das Glück, für Ihr Buch "Traumzeit für Millionäre" an Daten zu kommen. Für die Gegenwart scheint das geradezu unmöglich.

Sandgruber: Die Datenlage ist vor dem Ersten Weltkrieg deutlich besser als heute. Wir wissen tatsächlich in Österreich über die Einkommensverteilung bei den Spitzeneinkommen nicht wirklich Bescheid, weil die Einkommenssteuer sehr ausgehöhlt wurde. Bei den Vermögen ist es ähnlich. Im ganz obersten Segment ist nur ein Teil der Einkommen durch Quellensteuer abgedeckt. Kapitaleinkommen wie Wertpapiere, Sparbücher und Aktien etc. sind quellenversteuert, daher anonym. Der Finanzminister weiß nicht, wer diese Steuer zahlt.

STANDARD: Die Habsburgermonarchie ist recht gut erforscht. Was war der Anstoß für Ihr Buch?

Sandgruber: Der Anstoß war ein mehrfacher. 1910 bezog in den USA das oberste Prozent der Bevölkerung ein Viertel aller Einkommen, 1970 waren es noch acht Prozent, heute ist es wieder ein Viertel. Ich wollte sehen, wie es in Österreich aussieht. Erzürnt hat mich auch, dass es für die heutige Geschichtsforschung ein Tabu ist, über die damaligen Einkommen zu publizieren. Diese Daten gibt es aber. Das Finanzministerium veröffentlichte zwischen 1898 und 1913 jedes Jahr zwischen 500 und 1000 Seiten Einkommenssteuerstatistiken. Parallel dazu hatte ich auch Namenslisten der höchsten Einkommensbezieher mit den zugehörigen Einkommenssteuerangaben.

STANDARD: Die Einkommensteuer ist von fünf Prozent vor dem Ersten Weltkrieg auf 60 Prozent Anfang der 1920er-Jahre gestiegen. Wie sah diese Abgabe aus?

Sandgruber: Es war eine sehr umfassende Steuer, von der alle Einkommensarten erfasst wurden, sogar so etwas wie imputierte Mieten. Das heißt, der Palais-Eigentümer, der selbst darin wohnte, musste dafür Steuer zahlen, in dem Umfang, was ihm an Mieten entging. Natürlich gab es auch Hinterziehung. Aber weniger, als was versteuert wurde, hatte derjenige sicher nicht. Wenn ich also sage, das oberste eine Prozent hatte mehr als ein Viertel aller Einkommen, so ist das fast eine Untergrenze.

STANDARD: Heute gehen wir immerhin davon aus, dass in den europäischen Sozialstaaten der ungleichen Vermögensverteilung eine relativ gleiche Verteilung der Einkommen gegenübersteht. Oder zweifeln Sie daran?

Sandgruber: Sowohl die Daten vor 1914, als auch die heutigen Daten sind vor der Steuer. Heute ist der Spitzensteuersatz zumindest in der Theorie bei 50 Prozent. Vor dem ersten Weltkrieg war der Spitzensteuersatz fünf Prozent. Insofern: Nach der Steuer sind sie sicher heute gleicher verteilt. Vor der Steuer wissen wir das heute nicht ganz genau. Aber ich gehe davon aus, dass es in den mitteleuropäischen Staaten nicht so weit gekommen ist, wie in den USA. Die lange Friedenszeit, gewisse steuerliche Maßnahmen und – aber das ist schwer zu beweisen - die zurückgehende Angst vor einer kommunistischen Korrektur haben dazu geführt, dass die Ungleichheit rasch zugenommen hat. Auch wenn sich die Steuersätze etwas verändert haben. Auch in den USA war vor dem Ersten Weltkrieg der Spitzensteuersatz in der Größenordnung von vier bis fünf Prozent und liegt heute bei mindestens 30 Prozent.

STANDARD: Genau in der Zeit der größten Ungleichheit wurden Höchstleistungen in Kunst, Medizin und Wissenschaften erbracht. Was sagt uns das?

Sandgruber: Wenn die Einkommen ganz gleich verteilt sind, so wage ich zu behaupten, dass das zu weniger künstlerischen, kulturellen und wissenschaftlichen Spitzenleistungen beiträgt. Bei gleicher Verteilung hätte sich niemand einen Klimt leisten können. Klimt hat damals für ein Bild mindestens 10.000 Kronen verlangt. Das Jahreseinkommen eines Arbeiters lag bei 1000 Kronen.

STANDARD: In Wien war dieser Arm-Reich-Unterschied ganz besonders deutlich ausgeprägt. Das ist wohl grundsätzlich ein Großstadtphänomen, das auch heute nicht zu übersehen ist?

Sandgruber: Das ist natürlich ein Phänomen von Ballungs- und Zuwanderungsgebieten. In solchen wird die Einkommensverteilung strukturell immer ungleicher sein, als in Gebieten wo kaum eine Wanderung oder Abwanderung stattfindet. Darum ist Ende des 19. Jahrhunderts die Ungleichheit in den USA am allergrößten. Weil die starke Zuwanderung immer wieder billige Arbeitskräfte bringt und die, die schon dort sind, können gewissermaßen davon zehren, werden reicher und haben billige Arbeitskräfte. Damals war zum Beispiel Galizien sehr viel gleicher in der Einkommensverteilung aber das Elend war noch deutlich größer als in Wien. Wobei die untersten Einkommen in Galizien haben auch sehr viel weniger als die untersten in Wien.

STANDARD: Abgesehen davon, dass auch heute die meisten Millionäre in Wien leben, gibt es manch andere Parallelen.  Schon damals wurde Vermögen ins Ausland gebracht. Das ist heute wieder aktuell. Wie ist man damals damit umgegangen?

Sandgruber: Vor dem ersten Weltkrieg hatte man einen ziemlich freien Kapitalverkehr und auch danach konnte man sich gegen diesen Abfluss von Vermögen schwer wehren. Die Kapitalflucht war ein generelles Problem. Die Nationalsozialisten sind allerdings dagegen sehr brutal vorgegangen, bei den Juden noch einmal um eine Potenz verstärkt und mit rassistischen Methoden. Carl Menger, der berühmteste Ökonom Österreichs vor dem Ersten Weltkrieg, hat 1903 seine gesamte Lehrtätigkeit eingestellt, weil er so zerrüttet war von der Entwicklung. Er hat einen Krieg vorausgesehen und gesagt, wer gescheit ist, solle sein Geld ins Ausland verlagern. Das hat er auch selbst gemacht. Empfohlen hat er Schweden oder Norwegen. Die Wittgensteins haben auch mit der Verlagerung in die Schweiz einen Teil ihres Vermögens über den ersten Weltkrieg hinweg gerettet.

STANDARD: Wiewohl es damals im wahrsten Sinne des Wortes um Rettung ging, während es heute vielfach ums Hinterziehen von Abgaben geht.

Sandgruber: Die Hauptgefahr damals war die Hyperinflation. Die hat ja faktisch alle Geldvermögen im Inland total vernichtet und die Realvermögen zum Teil auch. Wer sein Geldvermögen durch die Hyperinflation verloren hat, musste, damit er überlebte, auch Realvermögen verkaufen. Diese Hyperinflation hat auch eine Nivellierung der Einkommen nach den Kriegen herbeigeführt. Wenn ich mit einer Einkommenssteuer von 60 Prozent oder sogar 80 Prozent belaste, ist trotzdem nicht alles weg. Durch die Hyperinflation war alles weg.

STANDARD: Stichwort "alles weg": In der Zwischenkriegszeit gab es bekanntlich auch Bankenpleiten. Das lief allerdings zum Teil anders ab als heute, nicht wahr?

Sandgruber: In der Zwischenkriegszeit sind eine ganze Reihe von Banken immer wieder aufgefangen worden. Zuletzt 1929 bei der großen Krise der Bodenkreditanstalt hat die Regierung Rothschild gezwungen, dass er mit der Creditanstalt die Bodencreditanstalt auffängt. Das führte am Ende zum Zusammenbruch der Creditanstalt und diese musste dann der Staat auffangen. Mit viel höheren Kosten als heute bei der Hypo Alpe Adria.

STANDARD: Wie beruhigend. Wie viel musste der Steuerzahler beisteuern?

Sandgruber: Die Kosten der Creditanstalt-Pleite waren höher als ein Bundesbudget. Rund 13 Prozent des Volkseinkommens. Aber an der Creditanstalt hingen zwei Drittel aller Industriebetriebe. Sie war im Gegensatz zur Hypo Alpe Adria sicher extrem systemrelevant. Man konnte sie nicht in den Konkurs schicken. Das ist ein Gerechtigkeits- und Systemthema. In einer Marktwirtschaft sollen die Verursacher ebenso haften. Louis Rothschild als Hauptaktionär musste das volle Risiko tragen und hat wirklich gebüßt dafür. Viel ist ihm nicht geblieben. (Regina Bruckner, DER STANDARD, 28.5.2014)