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Neisser: "Die große Koalition hat vergessen, den eigenen Boden aufzubereiten."

Foto: APA/HARALD SCHNEIDER

STANDARD: Sie sind ein Kind der Nachkriegszeit und haben Europa in seiner instabilsten Phase der jüngeren Geschichte erlebt. Wenn heute Parteien ins Europäische Parlament gewählt werden, die den Nationalismus wieder hochhalten, bereitet Ihnen das Angst?

Neisser: Das ist schon beunruhigend. Es bereitet mir keine Angst, weil ich weiß, dass sich Gesellschaft und Politik permanent ändern und man eben auch mit kritischen Entwicklungen konfrontiert wird. Aber ich sehe für den Kontinent keine andere Möglichkeit, als eine enge Kooperation der europäischen Staaten.

STANDARD: Das Wahlergebnis lässt den Schluss zu, dass viele Bürger nicht mehr an ein vereintes Europa glauben.

Neisser: Aus dem Wahlergebnis ist nicht nur eine Europafeindlichkeit herauszulesen, da stecken auch einige Denkzettel für nationale Regierungen drinnen. Doch die europäische Idee ist noch nicht überzeugend in die Welt der Bürger eingedrungen.

STANDARD: Die Rechten wollen eine Fraktion bilden, könnten aber weder Gesetzesinitiativen einbringen noch Beschlüsse verhindern. Ist die derzeitige Hysterie übertrieben?

Neisser: Die Rechtsparteien werden weniger Einfluss haben als derzeit befürchtet. Das, was man heute als Rechte im europäischen Parlament bezeichnet, ist ein völlig heterogener Block. Der wird nicht in der Lage sein, einheitliche Standpunkte zu formulieren.

STANDARD: Mehrheiten werden sich künftig vor allem über Zusammenschlüsse der beiden größten Lager ergeben. Parteipolitische Unterscheidbarkeit gibt es dadurch kaum. War es schlussendlich egal, wen man gewählt hat?

Neisser: Das kann man so sagen. Grundsätzlich ist diese übergeordnete Sachlichkeit, ein Parlament, das sich den gesamteuropäischen Problemen und nicht Fraktionen verpflichtet, aber ein Qualitätsmerkmal. Der nächste Schritt sind europäische Parteien.

STANDARD: Hat Jean-Claude Juncker den alleinigen Anspruch auf den Kommissionspräsidenten?

Neisser: Der Vertrag ist hier nicht besonders genau. Wenn man exakt demokratisch sein möchte, müsste es Juncker werden, legitim wäre aber auch Martin Schulz. Schlussendlich wird es aber so sein, dass im Rahmen eines sogenannten "big bargaining" mehrere Positionen vergeben werden und auch der Kommissionspräsident bestimmt. Das kennen wir in Österreich als Paketlösungen.

STANDARD: Im Rahmen eines Postenhandels wird auch der österreichische Kommissar vergeben. Warum stellt den immer die ÖVP?

Neisser: Das ist natürlich einerseits eine Frage der innerstaatlichen Mehrheit, die die ÖVP nicht mehr hat. Als gelernter Österreicher sage ich: weil es eben immer schon so war und die SPÖ dafür einen anderen attraktiven Posten bekommt.

STANDARD: Den ORF-Intendanten?

Neisser: Jaja, das kann gut sein. Wir sind in unserer Personalpolitik ein unverständliches Relikt des Parteienstaates geworden.

STANDARD: Hat sich die Obmanndebatte um Michael Spindelegger nun erledigt?

Neisser: Die Obmanndiskussion hat in der ÖVP eine gewisse Tradition und wird unterschwellig - trotz aller Bekenntnisse - weitergeführt werden.

STANDARD: Würde der Volkspartei denn ein neuer Obmann gut tun?

Neisser: Die Obmanndebatte allein ist für die weitere Existenz dieser Partei nicht mehr wesentlich. Wesentlich wäre eine Erneuerung der Führungsmannschaft, um jene personellen Ressourcen zu schaffen, die es in der Politik braucht. Mit einem Sebastian Kurz ist es nicht getan. Die ÖVP hat Defizite in ihrer gesamten Personalstruktur - in der Partei und all jenen Bereichen, in denen sie Einfluss hat.

STANDARD: Aber wer könnte die Führungsmannschaft austauschen, wenn nicht die Parteispitze?

Neisser: Ja, eben.

STANDARD: Sie sehen also schwarz für die ÖVP?

Neisser: Ich verspüre eine gewisse Skepsis, was die Zukunft dieser Partei betrifft. Neben der personellen Erneuerung müsste sie Strukturreformen zulassen. Das bündische Prinzip ist nicht mehr zeitgemäß. Der Föderalismus machte schon immer Schwierigkeiten. Es ändert sich die Parteienlandschaft, und es ändern sich die Wähler. Die Diskussion um Neos zeigt, wie stark das Bedürfnis nach einer neuen Partei ist.

STANDARD: Werner Faymann muss sich von ein paar Funktionären gerade anhören, dass auch die Sozialdemokraten auf ihre Wähler vergessen. Sind beide Großparteien am Ende?

Neisser: Ich bin der Meinung, dass ÖVP wie SPÖ vor einer Modernisierungsherausforderung stehen, der sie im Augenblick nicht gewachsen sind.

STANDARD: Die Probleme sind nicht ganz neu.

Neisser: Es geht natürlich nicht von heute auf morgen, dass die Herren Faymann und Spindelegger die Parteien verspielen. Die große Koalition hat eine entscheidende Rolle, weil beide die Aufmerksamkeit darauf gelenkt haben, zusammen zu regieren, und darauf vergessen, den eigenen Boden neu aufzubereiten. Man hätte in der ÖVP vor Jahren erkennen müssen, was die Zeichen der Zeit sind. Jetzt ist es womöglich zu spät. (Katharina Mittelstaedt, DER STANDARD, 30.5.2014)