Ein erstarktes und selbstbewusstes Russland führt die Schwächen einer uneinigen europäischen Sicherheitspolitik genauso vor wie die humanitäre Katastrophe in Syrien. Heute könnte die EU weder die äußere Sicherheit ihrer Mitglieder garantieren noch eine Flugverbotszone zur Sicherung eines humanitären Korridors in Syrien einrichten.
Die USA wiederum werden ihre strategische Schwergewichtsverlagerung in den pazifischen Raum trotz Arabischen Frühlings und Ukraine-Krise nicht rückgängig machen. Auch das wurde klar: Kein EU-Staat kann im nationalen Alleingang Konflikte dieser Dimension bewältigen. Europa wird also zukünftig mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen müssen. Es bedarf gemeinsamer europäischer Antworten. Und die europäischen Bürger haben ein Gespür für die Richtigkeit dieses Weges, denn immerhin unterstützen konstant mehr als 70 Prozent eine gemeinsame europäisch organisierte Verteidigung. Ein Hoffnungsschimmer, auch wenn dieses Potenzial im vergangenen EU-Wahlkampf kaum genutzt worden ist.
Sicherheitspolitisch stellt sich die grundlegende Frage, wie Europa in Zukunft die eigene Sicherheit und auch jene seiner Nachbarschaft gestalten soll? Was ist zu tun, um auf zukünftige Krisen besser vorbereitet zu sein?
Die Antworten sind nicht schwierig zu finden, sie liegen vielfach bereits auf dem Tisch. Die Staats- und Regierungschefs der EU haben im Dezember 2013 ein umfassendes Verteidigungsprogramm verabschiedet. Dabei geht es vor allem um die Vertiefung der militärischen Kooperation, Arbeitsteilung, "Pooling und Sharing", gemeinsame Flaggschiffprojekte in den Bereichen neuer Fähigkeiten wie Cyber, Drohnen und strategischer Transport sowie eine verstärkte Ausrichtung der nationalen Verteidigungspolitiken auf den europäischen Bedarf. Zur Umsetzung dieser bekannten Lösungsansätze fehlte bislang aber häufig der politische Wille.
Renationalisierung ist in der Verteidigung kein gangbarer Weg, denn verteidigungspolitische Souveränität und militärische Autonomie sind in einer globalisierten Welt Illusion. Es bedarf vielmehr neuer Formen gemeinsamer sicherheitspolitischer Souveränitätsausübung, um national schon lange verlorene Handlungsfreiheit gemeinsam auf europäischer Ebene wiederzugewinnen.
Die schlechte Nachricht auf dem Weg dorthin ist, dass viele europäische Staaten ihre Verteidigungsbudgets um bis zu 40 Prozent reduziert haben, während aufstrebende Mächte ihre Budgets im selben Umfang erhöht haben. Dieser Trend wird langfristig die Fähigkeit Europas, ein glaubwürdiger internationaler Akteur zu sein, der für seine Werte und Interessen nachhaltig eintreten kann, aushöhlen. Die gute Nachricht lautet aber, dass eine verbesserte europäische Verteidigungspolitik in Summe nicht mehr kosten muss. Denn insgesamt geben die 28 EU-Staaten mit rund 190 Milliarden Euro pro Jahr noch immer genügend für Verteidigung aus, um die absehbaren Szenarien autonom beherrschen zu können.
Die vorhandenen Mittel werden jedoch vielfach nicht effizient eingesetzt. Beschaffungen aus rein nationalen Erwägungen, kleine und unökonomische Stückzahlen sowie unnötige Duplizierungen prägen die Realität. Kooperationen, Spezialisierung und eine bessere Synchronisation nationaler Verteidigungsplanungen wären aber das Gebot der Stunde.
Verständlicherweise setzt die Nato in der aktuellen Situation auf ihre Kernfunktionen territoriale Verteidigung, strategische Abschreckung, Raketenabwehr und Truppenstationierungen. Ihre Zukunft ist aber einmal mehr von der Glaubwürdigkeit der Beistandsgarantie der USA abhängig, die auch 75 Prozent der finanziellen Lasten tragen. Innerhalb der EU ist noch nicht absehbar, welche Auswirkungen die Krisen auf die militärischen Planungen haben werden.
Dringend notwendig wäre zunächst eine Überarbeitung der europäischen Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2003, die auf Annahmen beruht, die eine Dekade später obsolet geworden sind. Dabei sollten Fragen der Verteidigung und des internationalen Krisenmanagements ausgewogen behandelt werden. So wichtig die Bewältigung der Ukraine-Krise auch ist, die Konflikte im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika und auf dem Balkan sind deswegen nicht verschwunden. Sie bedürfen einer fortgesetzten umfassenden zivil-militärischen Stabilisierungspolitik, will man negative Folgen wie unkontrollierte Migration, Terrorismus oder Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen von Europa fernhalten.
Und Österreich?
Und was heißt das alles für Österreich? Es gilt, militärisches Planen verstärkt am europäischen Bedarf zu orientieren, die nationale Sicherheitsvorsorge auf die neuen nichtkonventionellen Risiken auszurichten und das aktive Engagement in der europäischen Nachbarschaft auf hohem Niveau fortzusetzen. Die neue Sicherheitsstrategie weist den Weg in diese Richtung. Es bedarf aber noch der Erkenntnis, dass der mit breiter parlamentarischer Mehrheit vorgegebene politische Zweck auch Mittel erfordert. Sicherheitspolitik ist eine Staatsgrundaufgabe. Man muss darin investieren. Daher muss das Verteidigungsbudget zunächst stabilisiert und nach Überwindung der unmittelbarsten Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf ein dem politischen und wirtschaftlichen Gewicht Österreichs entsprechendes Niveau gehoben werden. Nur dann bleibt Österreich ein ernst zu nehmender europäischer Partner.
Auf lange Sicht wäre eine Vergemeinschaftung der Verteidigung auch für Österreich ein schlüssiges Konzept. Realpolitisch wird aber kurzfristig eine Politik der kleinen Schritte auf Basis von Kooperationen zwischen gleichgesinnten Mitgliedstaaten dominieren. Egal ob kleine Schritte oder großer Wurf, fest steht eines: Nicht erst seit dem Ergebnis der EU-Wahlen vom Sonntag liegt der Schlüssel für eine wirkungsvollere GSVP in Berlin und neuerdings potenziell auch in Rom. Daher wären engere Kooperationen Österreichs gerade mit diesen Staaten aus europapolitischer Perspektive sinnvoll und aus militärischer Sicht geboten. (Johann Frank, DER STANDARD, 30.5.2014)