Familientherapeut, Autor und STANDARD-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: Family Lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit familylab Österreich.

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Frage: Ich habe mit dem Buch "4 Werte, die Kinder ein Leben lang tragen" Sie und Ihre Ratschläge und Meinungen "entdeckt". Jetzt hätte ich eine Frage: Wenn mein dreijähriger Sohn zum Beispiel am Strand ein anderes Kind mit der Schaufel schlägt und ich dann mit ihm nach Hause gehe oder er mich zu Hause unendliche Male so provoziert, dass ich deshalb alleine zum Einkaufen gehe: Bin ich dann authentisch, weil ich mich am Strand bei den anderen Müttern unbehaglich fühle oder in Ruhe einkaufen will? Muss er das als Konsequenz aus seinem Tun verstanden wissen, oder sieht er es einfach nur als Strafe - und ich untergrabe damit meine Autorität?

Antwort: Ihre gesamte Frage handelt von Ihrer Authentizität im Verhältnis zu Ihren Gefühlen und Ihrer Entscheidung in der von Ihnen geschilderten Situation. Ich liebe diese Frage aus dem Grund, weil ich sie nicht beantworten kann. Es kann niemand beurteilen, ob Sie oder ich im Verhältnis mit anderen authentisch sind. Nur Sie selbst können für sich beantworten, ob Sie in diesem Moment - oder nach einer Reflexion - ein gutes Gefühl hatten. Sind Sie im Reinen mit dem, was Sie getan haben? Können Sie anderen und auch Ihrem Sohn ohne Schuldgefühle gegenübertreten?

Versuch und Irrtum

Authentizität ist ein Ziel, und der Weg dorthin ist geprägt von Versuch und Irrtum. Entscheidungen werden schnell und spontan, manchmal auch sehr überlegt getroffen. Manche entsprechen einer gewohnten Norm, andere hingegen nicht. Genau so sollen ein gedeihendes Leben und eine persönliche Entwicklung verlaufen. In diesem Prozess verletzen wir sowohl Menschen, die wir lieben und für die wir uns verantwortlich fühlen, als auch uns selbst. Aber das ist okay!

Wenn wir dabei jedoch andere vorführen und ihnen dabei das Gefühl von Schuld vermitteln, anstatt selbst die Verantwortung für unsere Fehler zu übernehmen, wird dieser Prozess destruktiv und selbstzerstörerisch. Integrität ist eine persönliche Erfahrung - aber, und nun wird es etwas kompliziert: Es ist auch eine zwischenmenschliche Erfahrung. In der von Ihnen beschriebenen Situation zwischen Ihnen und Ihrem Kind.

Die Erfahrung Ihres Sohnes war, dass Sie nicht aus Ihrer persönlichen Integrität heraus agiert haben. Die Konsequenz dessen ist, dass er Sie weiter in der Hoffnung provoziert, dass er mit Ihrem wahren Selbst in Kontakt kommt.

Klassischer Konflikt

Ihre Reaktion nach dem Ereignis am Strand entstand aus Ihrem gesellschaftlichen Wunsch, als gute und verantwortungsvolle Mutter gesehen zu werden. Daran gibt es nichts auszusetzen, nur steht dieser Wunsch sehr oft nicht im Einklang mit dem, was im Inneren unserer Kinder vorgeht. Das führt zum klassischen Konflikt: Ich brauche das hier, und du brauchst etwas anderes.

Jede Familie durchlebt diesen Konflikt jeden Tag! Das ist völlig in Ordnung, und es wird dabei auch niemandem Schaden zugefügt. Der wirkliche Schaden (für das Selbstgefühl des anderen) entsteht erst dann, wenn der andere sich mit seinem Bedürfnis als falsch, schlimm, inakzeptabel oder Ähnliches fühlt. Es stellt sich jetzt natürlich die große Frage, was Sie und andere Eltern in einem ähnlichen Konflikt machen können. Die lange Version meiner Antwort finden Sie in meinem letzten Buch "Aggression".

Die kurze Antwort ist die folgende: Begeben Sie sich mit Ihrem Sohn auf etwas Abstand zu den anderen. Nehmen Sie ihn in den Arm (bleiben Sie ruhig!) und warten Sie, bis er sich beruhigt hat. Nun können Sie ihm in die Augen sehen und zu ihm sagen: "Meine Güte, du bist wirklich wütend auf das andere Kind geworden! Kannst du mir sagen, was passiert ist? Es interessiert mich wirklich sehr."

Kein Schuldiger

Nur unsere derzeit geltenden bürgerlichen Normen geben jene Regeln vor, denen Sie gefolgt sind. Die Realität ist, dass die Gewalt ein Ergebnis von dem war, was zwischen den beiden passierte. Sie waren beide verantwortlich für das, was sich abspielte. Nur weil Ihr Sohn das andere Kind geschlagen hat, macht das keinen der beiden zum Schuldigen.

Das Beste, was Sie tun können, um Gewalt zu verhindern, ist, wenn sich beide Eltern mit beiden Kindern zusammensetzen. Die andere Mutter oder der andere Vater könnte sagen: "Wow, das hat jetzt sicherlich wehgetan, was der/die andere getan hat." Geben Sie dem Kind nun Zeit, zu weinen und sich zu beschweren. Danach fragen Sie, ob es eine Idee hat, was passiert ist, bevor es geschlagen wurde.

Es mag sein, dass sich der Konflikt nicht aufklärt. Das elterliche Verhalten aber vermittelt den Kindern eine starke Botschaft: Wir wollen keine Gewalt. Aber wir erkennen, dass das manchmal geschieht. Um weiterhin befreundet zu bleiben, brauchen wir alle in solch einer Situation Worte und keine Fäuste.

Entschuldigung fällig

Wenn Sie das Gefühl haben, sich den sozialen Regeln unter Eltern zu fügen, und Sie immer noch eine gute Beziehung zu Ihrem Sohn haben, dann müssen Sie sich auf dem Weg nach Hause bei Ihrem Sohn entschuldigen: "Es tut mir leid, dass ich mit dir weggegangen bin. Ich habe es hauptsächlich deshalb getan, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen. Aber ich sehe, dass dich das verletzt. Bitte um Entschuldigung!" So haben Sie Ihre Authentizität wiedererlangt, wie auch Ihre Autorität, und Sie beide können einander wieder nahe sein und zur Ruhe kommen. (Jesper Juul, derStandard.at, 1.6.2014)