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Hier, in der russischen Provinz, gilt es selbstverständlich der Kunst: Trigorin (Michael Maertens) erteilt Nina (Aenne Schwarz), der angehenden Schauspielerin, etwas Literaturunterricht.

Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

Aus Anlass der Premiere ein kleiner Leitfaden durch das Stück in alphabetisch geordneten Stichwörtern.

Aufführung: Die Uraufführung seiner "Komödie" Die Möwe 1896 erlebte Anton Tschechow (1860-1904) als verstörende Katastrophe. Noch während die Vorstellung im Sankt Petersburger Alexandratheater lief, zog sich der Dichter in die Garderobe einer Schauspielerin zurück und schmollte. Schließlich verließ Tschechow das Haus, um sich in der alten Hauptstadt des Zarenreiches die Beine zu vertreten.

Benefiz: Es wird berichtet, die Besucher der Uraufführung - es handelte sich um eine Benefizvorstellung - hätten gekichert und geschwätzt. Tschechow zeigte sich aufs Äußerste irritiert: "Wenn ich noch 700 Jahre leben sollte, so werde ich auch dann kein einziges Stück mehr ans Theater geben." Er behielt zweifach unrecht. Weder lebte er weitere sieben Jahrhunderte, noch hielt er seinem Boykottvorhaben die Treue. Das von Konstantin Sergejewitsch Stanislawski 1898 gegründete Moskauer Künstlertheater führte die Möwe sogar als Wappentier.

Bühnenstar: Die Möwe kann als gallbittere Satire auf das Theater aufgefasst werden. Die alternde Schauspielerin Arkadina (Christiane von Poelnitz) schmeichelt ihrer Allüre, indem sie sich einen Novellendichter namens Trigorin (Michael Maertens) als Schoßtier hält. Man verbringt unproduktive Sommer auf dem Landsitz der Arkadina. Sohn Kostja versucht sich als Poet, um der gefühlskalten Mutter zu imponieren.

Dramolett: Das kleine Dramolett, das Kostja im Garten des Guts zur Aufführung bringt, entpuppt sich als Rohrkrepierer. Nina (Aenne Schwarz), das begabte Mädchen vom Nachbargrundstück, liebt fortan nicht mehr ihn, sondern Trigorin. Kostja - in der morgigen Aufführung spielt ihn Daniel Sträßer - neigt zu autoaggressiven Wahnsinnstaten. Sein letzter Selbstmordversuch ist prompt ein voller Erfolg.

Jahrmarkt: Viel ist gerätselt worden, was es heißt, "im Jahr 1873 auf dem Jahrmarkt von Poltawa wundervoll gespielt" zu haben. Gerade das aber sagt der Gutsverwalter Schamarajew der Arkadina nach, um ihr zu schmeicheln. Was sich anhört wie ein Pendant zur Welser Landwirtschaftsmesse, soll in Wahrheit die Ausmaße einer Weltausstellung besessen haben. Irina Nikolajewna Arkadina kann in ihren besten Zeiten daher nur ein Star gewesen sein, eine Birgit Minichmayr der slawischen Tiefebene.

Korken: Zwischen dem dritten und dem vierten Akt sind zwei Jahre vergangen. Nina hat von Trigorin ein Kind bekommen und dieses wieder verloren. Sie tingelt als Provinzschauspielerin durch die Lande und schlüpft eines Abends in Kostjas Zimmer, um ihm endgültig Adieu zu sagen. Der unglückliche Jüngling frönt weiterhin der Dichtkunst, doch ohne Erfolg. Während seine Mutter und die anderen Müßiggänger im Salon Lottokarten ziehen, jagt sich Kostja im Nebenzimmer eine Kugel in den Kopf. Der zynische Arzt Dorn, eine Gestalt von Ibsen'scher Kälte, bemerkt, in seiner Reiseapotheke wäre etwas geplatzt. Die Gesellschaft kann seelenruhig ihr Spiel zu Ende bringen.

Kunst: Tschechow legt seine Auffassungen von der Dichtkunst den Antipoden Kostja und Trigorin in den Mund. Der junge Enthusiast gerät gegenüber dem zynischen Routinier entscheidend in Nachteil. "Wir brauchen neue Formen", ruft Arkadinas Sohn mehrmals aus, "und wenn es sie nicht gibt, dann brauchen wir besser gar nichts." Sein kleines symbolistisches Drama fällt gnadenlos durch. Kein Wunder: Obwohl es von der reizenden Nina gespielt wird, handelt es von etwas so Verquastem wie der "alleinigen Weltseele", während rings um diese alles Leben erloschen ist. Trigorin, sein Rivale um die Gunst Ninas, ist da deutlich pragmatischer. Formulierungen sammelt er in einem Notizbüchlein. Wichtiger als aller Schaffensdrang ist ihm das Vergnügen, auf der faulen Haut zu liegen und zu angeln. Am liebsten angelt er Mädchenherzen.

Trigorin: Es gibt gewisse Anhaltspunkte, hinter dieser Figur ein Selbstporträt Tschechows zu vermuten. Sollte dies der Fall sein, so hat der Dichter seinem Ego keineswegs geschmeichelt.

Verrisse: Die Möwe fand nicht nur wegen der unglücklichen Uraufführung zunächst eine ungnädige Aufnahme durch die Kritik. Bemängelt wurde "ein sehr schlecht durchdachtes, ungekonnt komponiertes Stück", aus dem einen die Langeweile anwehe. Der Vorwurf erscheint umso unsinniger, als Tschechows Meisterschaft gerade darin besteht, die Verzweiflung des Menschen ob der Vergeblichkeit seines Tuns in Worte zu fassen. Die heutige Aufführung im Wiener Akademietheater beschließt die laufende Burg-Saison. Regisseur Jan Bosse hat dem Vernehmen nach versprochen, die Bezeichnung "Komödie" stark zu beachten. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 31.5.2014)