Schwulen-Aktivist Holger Thor, mitten auf der verkehrsberuhigten Mariahilfer Straße: In Wien werde immer geschimpft - am Ende sei die Stadt jedoch tolerant in (fast) jeder Hinsicht.

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STANDARD: Warum sitzen wir hier mitten auf der Mariahilfer Straße?

Thor: Das ist der wienerischste Platz, den ich mir denken kann. Ich wohne hier in der Nähe und habe inständig gehofft, dass die Mahü zur Fußgängerzone wird. Zum Glück ist das nach all den Debatten und Aufregungen gelungen, und die Lebensqualität ist sofort unglaublich gestiegen. Das macht mich gerade sehr glücklich.

STANDARD: War die Aufregung um die Verkehrsberuhigung auch wienerisch?

Thor: Das ist total wienerisch. Und so typisch. So ist die Wiener Mentalität. So wie wir hier sitzen, werden bald alle sitzen und es lieben. Jetzt gibt es wahrscheinlich noch weitere Maulereien, wegen der Umbauarbeiten. Aber in ein, zwei Jahren wird sich kein Mensch mehr vorstellen können, dass hier je Autos gefahren sind. Aber Hauptsache, vorher wird geschimpft.

STANDARD: Kennt man hier auf der Straße eher Holger Thor oder eher Miss Candy?

Thor: Candy stieg immer in eine Limousine, vor der Haustür. Das geht jetzt nicht mehr, insofern ist mein Leben komplizierter geworden. Aber nein, auf der Mahü kennt man mich eher als Holger.

STANDARD: Laut Ihrem Wikipedia-Eintrag sind Sie als Miss Candy "Österreichs bekannteste Dragqueen". Das wird wohl nach dem Song-Contest-Sieg von Conchita Wurst nicht mehr ganz stimmen. Eifersüchtig?

Thor: Nein, überhaupt nicht (lacht). Da hat sie mich wohl vom Thron gestoßen. Meine Visagistin hat schon immer gesagt: Vergiss nicht, es ist immer eine Jüngere hinter dir, die darauf wartet, dich zu überholen. Aber im Ernst: Ich mache mit Miss Candy seit 20 Jahren nichts anderes als das, was Conchita macht. Mit derselben gesellschaftspolitischen Message. Conchita ist die logische und perfekte Fortführung dieses Anliegens. Und sie macht das toll und top-professionell, sie hat auch medial noch keinen einzigen Fehler begangen.

STANDARD: Was hat Sie bewogen, zu Miss Candy zu werden?

Thor: Ich mache ja seit 25 Jahren den Heaven-Club, und mit dem haben wir schon sehr viel erreicht. Ich glaube, es gibt in Wien keinen anderen Ort, an dem so viele Menschen ihre Berührungsängste mit der Thematik Homosexualität verloren haben. Wir haben vor jeder Wahl Diskussionsrunden mit Spitzenkandidaten abgehalten, wir haben, mit Papp-Paragrafen auf dem Kopf, eine Menschenkette vor dem Parlament zur Abschaffung des 209ers gemacht. Da stand ich plötzlich stark in der Öffentlichkeit und habe dann diese Kunstfigur entwickelt, damit sie statt mir im Rampenlicht steht. Das hat dann eine Eigendynamik bekommen.

STANDARD: Wie lange dauert Ihre Verwandlung in Miss Candy?

Thor: Je älter ich werde, desto länger dauert es und desto teurer wird' s.

STANDARD: Wie hat Candy angefangen?

Thor: Als wir mit dem Heaven-Club begannen, war von Toleranz und Offenheit auch hier in Wien nicht die Rede. Das war ein sehr geschlossener, introvertierter Kreis, wo auch nur Schwule zu diesem Abend im U4 hingegangen sind. Wir hatten eigenes Personal, damit ja keine Übergriffe passieren. Und man konnte sich nicht als schwuler Mann outen und sich mit seinem Freund zeigen, da hat es große Probleme gegeben. So gesehen hat sich viel getan - auch wenn es jetzt so tolerant, wie es dargestellt wird, auch wieder nicht ist. Da muss man die Kirche im Dorf lassen, man soll sich nur ansehen, welche Ergebnisse die FPÖ regelmäßig erzielt. Fremdenhass und Homophobie gehen leider oft Hand in Hand.

STANDARD: Wie steht es um die rechtliche Gleichstellung?

Thor: Schlecht. Und das ist jammerschade. Die Gesellschaft ist hier schon viel weiter als die Politik. Da muss ein Anwalt bis zur letzten europäischen Instanz alles durchjudizieren, bis der Europäische Gerichtshof Österreich zwingt, Gesetze zu ändern. Ich hoffe sehr, dass die Wurst-Mania diesbezüglich etwas voranbringt.

STANDARD: Für wie nachhaltig halten Sie diese Wurst-Mania?

Thor: Die Politik wäre am Zug. Das Feld ist aufbereitet. Die politische Message schwingt immer mit - bei uns allen. Conchita hat jetzt wieder ein ganz kräftiges Zeichen gesetzt, über Österreichs Grenzen hinaus. Das bringt die ÖVP noch mehr unter Zugzwang, sie wird sich bewegen müssen. Insofern halte ich diesen Erfolg für nachhaltig.

STANDARD: Was genau soll die Politik tun?

Thor: Die komplette Gleichstellung beschließen, ohne Ausnahmen. So wie das in anderen Ländern auch ist und wie es sich auch gehört. Was soll denn das? Wir nehmen ja niemandem etwas weg.

STANDARD: Ein Argument der ÖVP gegen das Adoptionsrecht für Homosexuelle ist, dass dann heterosexuelle Paare noch länger auf Adoptivkinder warten müssten.

Thor: Blödsinn. Es geht ja auch nicht nur um schwul-lesbische Gleichstellung - sondern um ein Aufbrechen dieses starren Familienbildes. Familien schauen halt nicht mehr ganz so aus, wie sich die ÖVP das wünscht.

STANDARD: Warum ist Österreich so konservativ? Gemessen an der Zahl der Kirchenaustritte ist das Land gar nicht so katholisch.

Thor: Aber geprägt sind wir sehr stark vom Katholizismus - und auch von unserer nationalsozialistischen Geschichte, die das Familienbild doch sehr nachhaltig definiert hat. Aber man sieht auch über Österreichs Grenzen hinweg, was die Kirche für einen verheerenden Einfluss haben kann. Bei der Regenbogenparade in Belgrad müssen zweitausend Polizisten zweihundert Schwule schützen, weil Ziegelsteine fliegen. Oder jetzt wieder hat der serbisch-orthodoxe Metropolit von Montenegro, Amfilohije, Conchita Wurst für die Flut in Europa verantwortlich gemacht. Und die Leute glauben das! Aber ich bin fest davon überzeugt: Auch die Kirche wird sich bewegen - wenn auch in ihrem speziellen Tempo. Ich wiederhole mich: Da muss die Politik Tatsachen schaffen. Dann wird sich auch die Gesellschaft daran gewöhnen.

STANDARD: Sollte die SPÖ da mehr Druck auf den Koalitionspartner ausüben?

Thor: Doch, natürlich. Ich habe jetzt zehn Jahre lang die Vienna-Pride-Parade moderiert, und ich kann mir bei jeder Abschlussveranstaltung dasselbe Blabla von Politikern anhören. Und nie ändert sich was. Jetzt, wo ich darüber rede, merke ich gerade: Ich bin eigentlich ziemlich sauer.

STANDARD: War die Einladung Wursts ins Bundeskanzleramt peinliches Ranschmeißen?

Thor: Nein, das fand ich trotzdem cool - auch wenn vielleicht Kalkül dahinter war. Sportler, die einen großen Erfolg erzielt haben, werden auch vom Bundeskanzler eingeladen. Hätte er ihr das verweigert, wäre das schon wieder eine Diskriminierung gewesen. Das ist nur würdig und recht und auch ein Signal des offiziellen Österreich.

STANDARD: Neben Wien rittern Linz, Klagenfurt und Innsbruck um die Austragung des Song Contest 2015. Wo soll er stattfinden?

Thor: Als Wiener wünsche ich mir natürlich Wien. Aber: Wir leben in einem wunderschönen Land, und das ist jetzt eine Chance für Österreich - touristisch, imagemäßig, gesellschaftlich. Noch dazu ist es eine Jubiläumsveranstaltung: 60 Jahre Song Contest. Die ganze Welt schaut zu. Da sollten wir tunlichst nicht abkacken. Die Entscheidung sollte so fallen, dass wir ein Bomben-Fest liefern, dass wir uns von der besten Seite zeigen. Es sollte also der beste Austragungsort mit dem besten Paket siegen. (Petra Stuiber, DER STANDARD, 31.5.2014)