Arthur Friedenreich erzielte mehr Tore als Pelé, war aber nie bei einer WM (Bild).

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Wien - In dem 1955 erschienenen Buch "Soccer Revolution", das den Engländern und ihrer schwärenden Selbstgerechtigkeit die ballesterischen Leviten las, widmete sich Wilhelm Meisl auch ausführlich einem bis dahin nur so nebenbei wahrgenommenen Fußballland, das sich bald aber schon als ganzer Erdteil herausstellen sollte.

Und der 1933 von der Berliner "Vossischen Zeitung" nach London verjagte Wiener Jude rückte dabei einen Aspekt in den Vordergrund, den heutige Augen kaum noch bemerkenswert finden: die selbstverständliche Vielfarbigkeit des brasilianischen Fußballs. "Brasilien", so der jüngere Bruder des einstigen Wunderteamchefs Hugo, "ist mehr 'melting pot', als es Nordamerika am Höhepunkt der freien Einwanderung war." Obwohl die Weißen noch viele Privilegien hätten, "no real colour bar exists", wie Willy Meisl - Goalie bei der Austria, als diese noch Amateure hieß - im Original schrieb, das unbegreiflicherweise nie in Meisls Muttersprache gehoben worden ist.

Diese Rassenschrankenlosigkeit war freilich ein hartes Stück gesellschaftlicher Arbeit. "Es brauchte einige Jahre, bis der erste farbige Spieler eine Chance bekam." Der hieß Arthur Friedenreich, zerriss seine ersten Bock beim SC Germânia in São Paulo und debütierte 22-jährig 1914 im Team; sozusagen als ein augenzwinkernder Weißer, Schwarze durften offiziell ja erst 1918.

Neuer Stil

Mit Arthur Friedenreich kam das Brasilianische in den brasilianischen Fußball. Meisl zitiert den berühmten brasilianischen Soziologen Gilberto Freyre, der seinerseits Friedrich Nietzsche zitiert, um dieses Spezifische in Worte zu fassen: "Der brasilianische Mestize von Bahia, von Rio, der robuste Mulatte von der Küste, sie spielen eine Art von Fußball, die nicht mehr das apollonische Spiel der Briten ist, sondern ein dionysischer Tanz."

Das war freilich eine sehr poetisierende Sicht. Arthur Friedenreich, der 1969 starb, hätte die Geburt des brasilianischen Fußballs aus dem Geiste der Musik wohl ein wenig profaner beschrieben: dass er, Sohn eines deutschen Secondos namens Oscar und einer schwarzen Wäscherin, sich auf Weisung des Schiedsrichters zuweilen aufhellend Mehl ins Gesicht stauben musste vor dem Anpfiff; dass er seine "Negerfrisur" glätten, ja mit Haarnetz antreten musste; dass die Schiedsrichter es bei der Regelauslegung nicht sehr genau nahmen, wenn dem schmächtigen Arthur in die Schienbeine getreten wurde.

Tanzen aus Notwehr

Letzteres, so wird es überliefert, führte dann auch zu einem ersten Tanzschritt. Arthur Friedenreich täuschte links an, ließ den Gestreckten ins Leere fahren und marschierte rechts ballbesitzend weiter. Er erfand so das ballesterische Florett, das ihm allerdings auch nicht so zugeflogen ist, wie die ewigen unter den Talenten es sich bis heute wünschen. Friedenreich - fußballverrückt durchs Vatergen - trainierte mit besonderem Fleiß und Hartnäckigkeit.

Sehr oft auch allein mit sich, dem Ball und den ungewöhnlich dünnen Beinen. Und während so einer Trainingssession kam er auf ein weiteres ballesterisches Basic: die Fett'n. Friedenreich war der Erfinder - eigentlich Entdecker - des Effetschusses. Nicht nur damit, aber damit auch, schoss er sich an die Spitze der ewigen Torschützenliste. Friedenreich erzielte 1329 Fifa-notorische Treffer, 49 mehr als sein Nachfolger Pelé.

Nie bei einer WM

Zu einer Weltmeisterschaft durfte er nie fahren. 1930 war er wegen Ligastreitigkeiten, die zum Ausschluss aller Kicker aus São Paulo führten, nicht in Uruguay. 1934 war er, 42-jährig, schon emeritiert und ersparte sich so den Ausflug nach Italien, wo der Juve-Argentinier Luis Felipe Monti - den viele "das Pferd" nannten - Italien zum WM-Titel getreten hat.

Pé de Ouro nannte man dagegen Arthur Friedenreich, Goldfuß. Aber eigentlich müsste er Pé de Ouro I. heißen. Denn viele dieses Namens folgten ihm nach. Gegen den Ersten spielte er noch: Leônidas, der den Fallrückzieher entdeckte. Auch Garrincha, der Mann mit dem linken O- und dem rechten X-Bein, war so ein Pé de Ouro. Der gab den Stab weiter an seinen Teamkameraden Edson Arantes do Nascimento. Pelé also.

Vergessen ist Arthur Friedenreich nicht, im Gegenteil. 2008 hat man den nach ihm benannten Preis für den besten Torschützen wiederbelebt. 2012 erhielt ihn Neymar, von dem man sagt, dass er - so er denn fleißig und hartnäckig genug ist - dem Arthur Friedenreich nachfolgen könnte. Eventuell. (Wolfgang Weisgram, DER STANDARD, 2.6.2014)