Arturo Sergio, mit seinem Bruder Antonio Besitzer des Gran Caffè Gambrinus in Neapel, bewundert die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel: "Ja, sie war hier, und ich habe gesehen, wie sie spricht und sich bewegt. Sie verkörpert Europa." Die Augen des eher schmächtigen, aber einflussreichen Neapolitaners leuchten. "Sie ist eine ganz starke Politikerin." Wenn es nach ihm ginge, wäre sie die kommende Kommissionspräsidentin. Die Mamma Europas.
Ihm gegenüber sitzt im barocken Teil des Kaffeehauses, der erst 2001 von der Banca di Napoli wieder an die Familie Sergio restituiert wurde, der Krimiautor Maurizio de Giovanni (zuletzt Das Krokodil). Im Hauptberuf ist er Abteilungsleiter einer kleineren Bank, im zweiten Nebenberuf Sportreporter und Fan des Fußballclubs Napoli, dem aktuellen Cupgewinner. Er hält weniger von Merkel, hat links gewählt, die Liste des griechischen Oppositionschefs Alexis Tsipras.
Antonio Bassolino, der mittlerweile legendäre Bürgermeister Neapels in den 1990er- und beginnenden 2000er-Jahren, hat für seinen Partito Democratico natürlich dessen Spitzenkandidaten Matteo Renzi gewählt. Den Hauptgrund für den Erfolg Renzis bei den Europawahlen sieht Bassolino im Il Mattino in der "Wiederkehr der Hoffnung" in Italien.
Dem pflichtet auch di Giovanni bei, aber dazu komme noch etwas. "Renzi vermittelt Enthusiasmus für seine Arbeit." Der Premier "nimmt die Leute mit", was guten Fußballtrainern und Filmregisseuren gelinge. "Den meisten Politikern heutzutage leider nicht." Er wolle Renzi nicht schlechtmachen, aber der Florentiner schwimme auf einer Popularitätswelle wie Silvio Berlusconi vor zwanzig Jahren. Die nächsten Monate bereits würden zeigen, ob Renzi angesagte Reformen auch durchsetzen könne. "Da war bisher nicht viel", konstatiert der Banker und Autor: "Berlusconi hat schnell zu diktatorischen Methoden gegriffen." Er hoffe, Renzi mache das nicht.
Bassolino trifft den Ton der (wie die Wiener) musikalisch berührbaren Neapolitaner: "Dirigieren, nicht Diktieren" gehöre in einer demokratisch verfassten Gesellschaft zu den schwersten und gleichwohl wichtigsten Künsten.
Eine der großen Schwächen vieler europäischer Staaten sei außerdem, Politik durch Umfragen zu ersetzen. Europa werde heute zum Teil von Politologen und Demografen regiert. "Die aber hat niemand gewählt." International fast allmächtige Banker, die keiner wirklich zügle, besorgten den Rest, ergänzt Ermanno Rea, Literat und ehemaliger Präsident der Stiftung "Premio Napoli". In dieser Stimmung kommt auch Renzis Botschaft gut an. "Arbeiten statt feiern" verkündet er, der auch am Tag nach dem Sieg mit aufgekrempelten Ärmeln auftritt. Am Ende der Woche verlangt er "Reformen in der EU". Das solle man noch vor der Entscheidung über die Präsidentschaft diskutieren.
Wer das wird, interessiert im Gran Caffè Gambrinus niemanden. Auch Arturo Sergio nicht. Er will nur haben, dass Angela Merkel weiterhin die europäischen Fäden zieht.
Die Mamma als Dirigentin im Orchestergraben. (Gerfried Sperl, DER STANDARD, 2.6.2014)