Guillaume Gallienne spielt in "Maman und ich" gleich beide zentralen Rollen – hier reagiert er als Maman auf das beste Stück seines Gegenübers ein klein wenig konsterniert.

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Wien – Als vor einigen Jahren eine neue Biografie von Ernest Hemingway erschien, machte vor allem ein Detail die Runde: Der spätere Großwildjäger der Literatur wurde als kleiner Junge gelegentlich in Mädchenkleider gesteckt. Er reagierte darauf, wenn man der Mustererkennung in Lebensgeschichten glauben will, mit einer gigantischen Kompensation und ließ, sobald er der Mutter entkommen war, den Macho umso mehr heraushängen.

An Zusammenhänge dieser Art wird man bei dem Film Maman und ich (Les Garçons et Guillaume à table!) erinnert, der nach einem Überraschungserfolg in Frankreich und der Nominierung für nicht weniger als zehn Césars nun auch in Deutschland und Österreich in die Kinos kommt.

Anekdote wird Struktur

Guillaume Gallienne erzählt hier auf Grundlage eines Einpersonenstücks, das er zuerst selbst auf das Theater gebracht hatte, von einer Kindheit, die ein starkes "type casting" enthielt. In einem Interview erläutert Gallienne die Verwandlung von Autobiografie in Darstellungskunst in Maman und ich: "Die Idee kam mir auf der Couch, das heißt natürlich beim Psychoanalytiker. Meine Mutter pflegte immer zu sagen: Jungs und Guillaume, zu Tisch! Das ist nun auch der Originaltitel des Films. Er konnte nur entstehen, weil alles, was früher in meinem Kopf nur Anekdote war, plötzlich eine Struktur bekam. Es geht um die Geschichte eines Mannes, der zu passiv war. Erst allmählich wurde ich aktiv – und zum Schauspieler. Ich richtete mich auf und ging aus der Horizontalen in die Vertikale."

Guillaume Gallienne legt Wert darauf, dass Maman und ich ein Film über Klischees ist. Sie wurden ihm von der Mutter auferlegt, mit dem Ergebnis, dass er sich für schwul hielt. Das Kino spielte im Zusammenhang mit diesen Klischees immer schon eine entscheidende Rolle. "Als meine Mutter mich in die schrecklichste Stadt Spaniens schickte, sagte ich mir: Nun, ich bin in einem Film von Pedro Almodóvar, alle Frauen sind hier am Rande des Nervenzusammenbruchs." Und das änderte sich auch später nicht: "In England geriet ich folgerichtig in einen James-Ivory-Film verliebte mich in einen Typ, der eine Mischung aus Rupert Everett und Hugh Grant war."

Ein Teil der homosexuellen Mythologie ist bei Gallienne österreichisch besetzt: durch die Sissi-Filme. "Als Junge war ich in Romy Schneider verliebt, sie war so schön. Durch sie wurde ich auch zum Schauspieler. Denn Schauspiel ist Inkarnation, nicht Imitation. Ein normales Kind macht einfach einen Cowboy nach. Ein Schauspieler aber sieht etwas an einer Rolle, er fühlt die Wahrheit dieser Figur, er bemerkt etwas, durch das er sich anerkannt fühlt und das ihn diese Figur anerkennen lässt."

Es sei nicht so wie Malen nach Zahlen, führt Gallienne weiter aus: "Als ich Sissi sah, erkannte ich in der Erzherzogin meine Mutter, ein ernstes Pflichtgefühl, die Engländer haben dafür eine Formel: 'never explain, never complain'. Ich fühlte immer Zärtlichkeit für solche Frauen, sie taten mir aber auch leid in ihrer aristokratischen Haltung."

Noch im Interview lässt sich leicht erkennen, wie Gallienne diese Erfahrung auf dem Theater vermittelt hat. Er fällt umstandslos von einer Rolle in die andere, wechselt den Tonfall und die Zeitebenen nach Belieben, häufig eben mit komischem Effekt. Er ist, wie das in einer Sozialisation eben ist, bis zu einem gewissen Grad selbst seine Mutter.

Den Sketch vermeiden

"Was mir beim Schreiben wirklich half, das war Marcel Proust. Er sagt ja als Erzähler niemals, wie alt er ist. Die Situation erklärt sich selbst, er erklärt nichts. Diese große Elastizität zwischen Zeit und Raum in der Recherche half mir sehr. Ich musste mich nur davor hüten, zu sehr in die Nähe des Sketches zu kommen. Denn dann wäre es keine Komödie mehr. Das ist etwas, was ich bei Ernst Lu bitsch liebe. Das Publikum sagt: Du liebe Güte, das ist zu viel. Die Figuren aber scheinen das gar nicht zu bemerken."

Heute ist Gallienne ein sehr erfolgreicher Schauspieler, er spielt an der Comédie-Française und war zuletzt in der Prestige-Filmbiografie Yves Saint Laurent als Pierre Bergé zu sehen. Eine Frage, die bei Maman und ich unweigerlich auftaucht, hat Gallienne durchaus auch von mancher Seite Kritik eingetragen. Denn sind es nicht die allertraditionellsten Geschlechtermodelle, mit denen er hier spielt? Gibt es nicht vielleicht eine Identität jenseits der Klischees?

"Ich weiß nicht. Bei mir war es immer so: Wenn ich ein Mädchen war, sehnte ich mich nach Männern. Wenn ich mich nicht zerbrechlich fühlte, sondern Selbstbewusstsein hatte, liebte ich Mädchen. Wenn ich beschützt werden wollte, musste das ein Mann sein. Ich brauchte Zärtlichkeit von Männern. Das war das Bedürfnis. Denn das gab es in unserer Familie nicht." (Bert Rebhandl, DER STANDARD, 4.6.2014)