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Tiananmen-Platz, 1989: Das Bild von dem Mann vor den Panzern ging um die Welt.

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In Hongkong erinnerten Demonstranten damit an diese Szene und das Massaker.

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Der Protest kam aus Ostchina vom Taihu-See. "Liusi (4. Juni, Anm.) steht vor der Tür. Polizeispitzel überwachen und kontrollieren mich. Ich darf nicht mehr raus, wegfahren oder Reden halten ... Wu Lihong." So informierte der Umweltaktivist Wu Lihong den STANDARD per SMS, dass er unter Hausarrest stehe. Seit 15 Jahren führt er einen friedlichen Ein-Mann-Krieg, um einen der größten Süßwasserseen Chinas vor den Abwässern der Chemie-Industrie zu retten. Die Polizei sieht ihn deshalb als Dissidenten an, vor dem sie auf der Hut sein müsse. Besonders vor dem 4. Juni.

Allerorten reagieren die Behörden vor dem kritischen Gedenktag nervös - am nervösesten in der Hauptstadt Peking. Vor 25 Jahren befahl die Parteiführung dem Militär, den größten Massen- und Studentenprotest ihrer Geschichte mit Waffengewalt zu beenden. In der Nacht auf den 4. Juni 1989 richtete die Volksbefreiungsarmee bis zum frühen Morgen ein Blutbad an, als sie sich ihren Weg durch die Stadt zum Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen) freischoss und die dort kampierenden Studenten zum Abzug zwang. Der Name Tiananmen wurde zum Synonym des Massakers. Es ist zum Kainsmal der Volksrepublik geworden.

Die damaligen Geschehnisse stehen in keinem Schulbuch. Für Medien sind sie gleichfalls tabu. Staatliche Zensoren blockieren online die Suche nach Begriffen wie "4. Juni" oder nach listigen Umschreibungen wie "35. Mai". Am Dienstag blockierten sie ganze Dienste von Google. Das Vorgehen der Behörden sei "rigoroser als in den Vorjahren. Sie setzen alles daran, die Erinnerung an die Ereignisse von 1989 aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen", schreibt Amnesty International: "Dutzende Chinesen sind verhört, unter Hausarrest gestellt oder verhaftet worden."

Die Sicherheitsbehörden verbinden zwei Anlässe, um die Hauptstadt zur Festung auszubauen. Terrorismus soll ebenso unterbunden werden wie die Erinnerung an das Massaker. Nach einer Serie von Anschlägen und Selbstmordattentaten seit März, für die uigurische Islamisten verantwortlich gemacht werden, befahl Parteichef Xi Jinping, ein "himmelweit reichendes Abwehrnetz" vom Boden bis in die Luft zu knüpfen und alle Kräfte gegen den Terrorismus zu mobilisieren.

Peking hat sich seither in den Ausnahmezustand (Alarmstufe 1) versetzt. Täglich überfliegen fünf Hubschrauber auf 18 Routen die Stadt. An wichtigen Kreuzungen stehen Polizeivans. Im Straßenverkehr fahren offene Jeeps mit schwerbewaffneten Milizen. Tausende Polizisten sichern Metrostationen, die Personenkontrollen einführten. In langen Schlangen stehen die Pekinger an, um U-Bahn zu fahren, halten eingeschüchtert Abstand zu Polizeistreifen, die seit Sonntag mit Schäferhunden unterwegs sind.

Das Boulevardblatt Beijing News Daily traute sich am Montag erstmals, Kritik anzumelden. "Für den Waffengebrauch muss es systematisierte Regeln geben. Polizisten dürfen nicht wild um sich schießen, nur weil aktuell der Kampf gegen Terrorismus solche Priorität hat."

Wasserwerfer-Ungetüme

Terrorbekämpfung ist allerdings nicht gemeint, wenn die Polizei moderne Wasserwerfer zur Schau stellt. Die 3,5 Meter hohen Ungetüme sollen mit Hochdruckkanonen 15 Tonnen Wasser verschießen können. Auch die Arsenale voll Tränengas-Granaten, Gummigeschoßen und Elektroschlagstöcken lassen ältere Pekinger sofort an die absurden Erklärungen Li Pengs vom 1. Juli 1989 zurückdenken.

Damals versuchte der Premier, der neben dem heimlichen Oberkommandierenden Deng Xiaoping einer der Hauptverantwortlichen für den Armeeeinsatz war, das Massaker zu rechtfertigen: "Unsere Soldaten wollten kein Blut vergießen. Sie hatten aber keine Wasserwerfer, genug Tränengas oder Gummigeschoße."

Das Massaker war auch "keine Verkettung von Missverständnissen", wie es Li darstellte. Aus den nach Hongkong geschmuggelten Memoiren des früheren Parteichefs Zhao Ziyang, der gegen den Armeeeinsatz opponierte und vom Politbüro entmachtet wurde, weiß die Welt heute, dass das Blutbad Folge falscher Beschlüsse war. Der einstige Polizeiminister Wang Fang berichtet in seinen 2006 in China veröffentlichten Erinnerungen, dass Premier Li schon am 17. Mai, zwei Tage vor der Verhängung des Kriegsrechts, die Entscheidung im Politbüro durchsetzte. Die Rolle des Sündenbocks aber quälte ihn. In einem im August 2004 für die ZK-Parteimagazin Qiu Shi ("Tatsachen") geschriebenen Aufsatz "Erinnerungen an Deng Xiaoping" versuchte er, alle Verantwortung auf Deng abzuwälzen. Er habe nur ausgeführt.

Pekings Sieger wussten von Anfang an, welches Verbrechen sie mit dem Armeeeinsatz auf sich luden - und verboten alle Debatten. Chinas neue Führung unter Xi verschärft diesen Kurs noch. Als sich 15 Intellektuelle und Anwälte im Mai zur selbstorganisierten Aussprache über die Bedeutung des 4. Juni in einer Privatwohnung verabredeten und Fotos davon online stellten, statuierte die Polizei ein öffentliches Exempel. Fünf Teilnehmer, darunter der prominente Menschenrechtsanwalt Pu Zhiqiang, der liberale Philosoph Xu Youyu oder die Internetdissidentin Liu Di, wurden inhaftiert, unter der grotesken Anklage öffentlicher Unruhestiftung.

Kein kritischer Zwischenruf darf aus Peking kommen. Nach diesem Vorfall hat die Polizei eine Reihe prominenter Aktivisten vor die Wahl gestellt, die Metropole vorübergehend zu verlassen oder unter verschärftem Hausarrest isoliert zu werden. Auch Ding Zilin und ihr 80-jähriger Mann "verreisten". Ex-Professorin Ding, deren damals 17-jähriger Sohn von der Armee erschossen wurde, ist Gründerin der Hinterbliebenenbewegung "Mütter des Tiananmen". Ihre Initiative fordert alljährlich und bisher vergebens Chinas Führer auf, den 4. Juni neu zu bewerten und die vielen hundert Opfer zu rehabilitieren.

Auch nach einem Vierteljahrhundert verschweigt die Regierung die Zahl der Getöteten als Staatsgeheimnis. Nur zwei Mal gab das Regime Auskunft. Am 6. Juni 1989 nannte der damalige Regierungssprecher Yuan Mu 300 Tote. Zwei Wochen später korrigierte Peking die Zahl nach unten auf 210 Opfer, darunter 36 Studenten und zehn getötete Soldaten. Heute sagt es nichts mehr.

Die Lage ist so gespannt, dass auch ausländische Medien einen Maulkorb erhalten. Die Polizei lud mehr als ein Dutzend akkreditierter Korrespondenten vor, um sie zu verwarnen, während Videokameras ihre "Belehrung" filmten. Sie dürften den Tiananmen in der Zeit um den Jahrestag nicht ohne Vorabgenehmigung eines Verwaltungskomitees für den Platz betreten. Sie wurden gewarnt, am besten nicht über das heikle Thema zu berichten, sonst hätten sie mit ernsten Folgen zu rechnen. Der Auslandskorrespondentenklub (FCCC) verurteilte "die zunehmende Schikane und Einschüchterung ausländischer Medien und ihrer lokalen Mitarbeiter vor dem 25. Jahrestag".

Die Aufpasser der Staatssicherheit ziehen die Zügel weiter an. Die Zensoren blockierten am Dienstag einen BBC-Bericht über Tiananmen. Die Reportage recherchierte das Schicksal des einstigen Fabrikarbeiters Miao Deshun, dem wahrscheinlich letzten Inhaftierten unter den 1600 Chinesen, die nach 1989 wegen Aufruhr verurteilt wurden. Nach Angaben der US-Gefangenenhilfe Dui Hua ("Dialog") soll Miao beim Truppeneinmarsch einen Brandsatz geworfen haben. Er wurde zur Todesstrafe mit Bewährung verurteilt. Die Strafe wurde 1998 in 20 Jahre geändert.

Die offizielle Parteimeinung lautet, dass zu ihrem damals richtigen Urteil über den 4. Juni als Aufruhr und den "Maßnahmen, mit denen er unterbunden wurde", heute nichts mehr zu sagen ist. (Johnny Erling aus Peking, DER STANDARD, 4.6.2014)