Es dauert eine Zeit, bis man sich als europäischer Normalbürger im neugewählten EU-Parlament einigermaßen auskennt. Was man gewohnt war, gilt nicht mehr. Bisher stellte sich diese Volksvertretung als wohlgeordnete Familie dar, mit Christdemokraten und Sozialdemokraten als Papa und Mama, Liberalen und Grünen als den halbwüchsigen Kindern und daneben allerlei Kleinzeug links und rechts. Und heute? Alles anders.

Wenn man sich die diversen Tortengrafiken ansieht, die die Sitzverteilung sichtbar machen, ist der erste Eindruck: Die Torte ist sehr viel bunter als zuvor. Papa und Mama sind immer noch da und besetzen beruhigend große Tortenstücke. Aber das Kleinzeug ist stärker und vielfältiger geworden. Da sind zunächst natürlich die Rechtspopulisten, die, angeführt vom französischen Front National und der britischen Ukip, schon nicht mehr unter Kleinzeug figurieren, sondern, wenn sie sich denn einigen könnten, einen beachtlichen Block bildeten. Die Linke aus den südlichen Krisenländern mit der griechischen Syriza als Flaggschiff ist ebenfalls keine Quantité négligeable mehr. Und dann kommt schon das unübersichtliche Heer der "Sonstigen", die keiner der traditionellen Parteienfamilien zugeordnet werden und es trotzdem ins EU-Parlament geschafft haben.

Da ist die italienische Wutbürgerarmee von Beppe Grillo, immerhin auf dem zweiten Platz der italienischen Abgeordneten. Die Anhänger des Oligarchen Andrej Babis, Nummer eins bei den Tschechen. Sind sie Liberale? Oder doch eher Konservative? Ähnliches gilt für die starken rumänischen Nationalliberalen. Und wer ist Podemos? Die gar nicht so kleine spanische Partei, die aus der seinerzeitigen Protestbewegung der jungen Arbeitslosen von Madrid hervorgegangen ist. Dazu kommen Piraten und Tierschützer, schwedische Feministinnen, slowenische Pensionisten, lettische Bauern, jede Menge Regionalparteien. Die meisten Parteien, nämlich vierzehn, schickt Deutschland (das keine Fünfprozentklausel kennt) nach Brüssel. Bei den Spaniern sind es immerhin zehn, wenn man von Belgien (elf) absieht. Dort gibt es freilich die meisten Parteien doppelt, einmal flämisch und einmal wallonisch. Und schließlich noch etliche Spaßvereine wie die deutsche "Die Partei", die jeden Monat jemand anderen nach Brüssel schicken will, damit dieser oder diese auch einmal ordentlich Geld verdienen kann.

Was lässt sich aus all dem lernen? Ist Europa ein Sack voll Flöhe geworden? Ist das Wahlergebnis das Resultat von Enttäuschung, Ratlosigkeit, Resignation? Immerhin hat eine stattliche Mehrheit von Wahlberechtigten - 57 Prozent - gar nicht gewählt, im Osten waren es noch mehr. Sind das die Leute, die sich gesagt haben: nutzt eh nix, die da oben machen mit uns ohnehin, was sie wollen? Sind die vielen "Sonstigen" eine marginale Erscheinung? Oder sind sie die Zukunft?

Was immer man am neuen EU-Parlament kritisieren mag: Demokratisch ist es. Alle diese grundverschiedenen Menschen werden künftig regelmäßig zusammenkommen, miteinander reden, nolens volens versuchen müssen, gemeinsame Lösungen zu finden. Möglich, dass sie einiges voneinander lernen. Vielleicht auch nicht. Aber wir werden uns an den Gedanken gewöhnen müssen, dass die europäische Torte ab jetzt eher einem bunten Scheiterhaufen gleicht. (Barbara Coudenhove-Kalergi, DER STANDARD, 5.6.2014)