Das fordernde Filmprojekt haben von anfänglich 29 Teilnehmern schlussendlich 13 beendet.

Foto: "Nansen Dialogue Centre Osijek"

Das fordernde Filmprojekt haben von anfänglich 29 Teilnehmern schlussendlich 13 beendet.

Foto: "Nansen Dialogue Centre Osijek"

"Es war dieser eine Moment, der sich mir einprägte und mir klarmachte, dass etwas geschehen muss", sagt die kroatische Journalistin Željka Kovačević. Während der Dreharbeiten zu ihrer 2011 erschienen Reportage "Novi Vukovar" (Neues Vukovar), für die sie gemeinsam mit dem Filmemacher David Belas die Folgen der ethnischen Trennung in Schulen und Kindergärten in Vukovar verfilmte, musste sie mitansehen, wie verstörend der Alltag für die Kinder sein kann.

In einem Kindergarten in Vukovar, wo Kroaten und Serben sogar getrennte Eingänge haben und der Spielplatz durch einen Zaun getrennt ist, haben zwei Freunde - einer ist Kroate, der andere Serbe - an dem Zaun, sich gegenübersitzend, geweint. "Sie haben es nicht verstehen können, wieso sie nicht auch im Kindergarten miteinander spielen dürfen, wenn sie es zu Hause tagtäglich machen." Für Kovačević war das nur schwer hinzunehmen. Ebenso, dass die Segregation an den Schulen durch den separaten Unterricht und die unterschiedlichen Lehrpläne, je nach ethnischer/nationaler Zugehörigkeit, noch verstärkt wird.

Getrennte Unterrichtszeiten, unterschiedliche Curricula

In Kroatien ist an den meisten Schulen (aus Platzmangel) der Unterricht in eine Vormittags- und eine Nachmittagsschicht unterteilt. Je nach Klasse haben die Schüler eine Woche lang nur Vormittags- oder nur Nachmittagsunterricht, und in der darauffolgenden Woche wird das Ganze umgedreht. In Vukovar jedoch hat das aufgrund des dort gewählten Bildungssystems zur Folge, dass die Kinder und Jugendlichen die ethnische/nationale Teilung auch in der Schule durchleben müssen. "Es tut weh mitanzusehen, wie die Kinder von klein auf in ihre nationale Rolle gesteckt werden. Und das Bildungssystem fördert diese Teilung entlang ethnischer/nationaler Linien noch zusätzlich", kritisiert Željka Kovačević.

Nach der "friedlichen Reintegration Ostkroatiens" (Mirna reintegracija hrvatskog Podunavlja), die am 15. Jänner 1998 durch die Wiedereingliederung des Gebiets in Kroatien beendet wurde, hatten sich die lokalen Politiker darauf geeinigt, in Vukovar das Schulwesen nach dem "Modell C" zu organisieren. Das bedeutet, dass kroatische und serbische Schüler in unterschiedlichen Schichten zur Schule gehen und nach unterschiedlichen Lehrplänen unterrichtet werden. "Der Raum für gemeinsame Aktivitäten wird ihnen dadurch genommen, und sie lernen fast nur über ihre eigene Kultur und Geschichte und nur am Rande über die des jeweils anderen", sagt Kovačević.

Inklusives Curriculum "Nova Škola"

"Nach der Beendigung der Dreharbeiten zu 'Novi Vukovar' bin ich noch einige Male nach Vukovar gefahren und kam dann mit David (Belas, Anm.) überein, dass es nicht dabei bleiben kann", sagt Kovačević. So kamen die beiden Mitarbeiter der Zagreber Filmproduktionsfirma Fade In zur ihrer Projektidee, die kroatischen und serbischen Schüler zusammenzubringen. Doch vorerst mussten sie sich auf Partnersuche machen und fanden sehr schnell im Nansen Dialogue Centre Osijek (NDCO) einen kompetenten Mitstreiter.

Die NGO arbeitet schon seit vielen Jahren in Ostkroatien mit Kindern und Jugendlichen im Bereich der Vermittlung interkultureller Kompetenzen. "Ostkroatien ist eine multikulturelle Gegend, in der mehr als 20 Nationalitäten leben, und die Schulen entsprechen dieser Realität in vielerlei Hinsicht nicht", sagt Suzana Agotić vom NDCO. In einer vom NDCO veranlassten Erhebung zeigten sich im Jahr 2004 71,4 Prozent der Eltern aus Vukovar (unabhängig von der ethnischen/nationalen Zugehörigkeit) unzufrieden mit dem Schulwesen, das keinen inklusiven Unterricht für alle anbietet.

Daraufhin hat das NDCO gemeinsam mit Lehrer- und Elternvertretern sowie der Agentur für Bildung der Republik Kroatien, Zweigstelle Osijek, ein alternatives Schulcurriculum mit dem Namen "Nova Škola" (Neue Schule) ausgearbeitet. Das besondere an diesem Lehrplan ist das Fach "Kulturna i duhovna baština zavičaja" (Kulturelles und geistiges Erbe der Heimat), in dessen Rahmen Schüler über die multikulturelle Geschichte der Gegend unterrichtet werden. Dieses "inklusive" Curriculum wird als außerschulisches Angebot mittlerweile an 23 Schulen in Ostkroatien umgesetzt.

"Wir wollen aber klarstellen, dass wir den Minderheiten nicht ihr Recht auf eigenen Unterricht verwehren, sondern mit diesem alternativen Lehrplan eine größere Wahlfreiheit für alle sicherstellen wollen. Denn obwohl sich die Eltern mit dem derzeitigen Schulsystem unzufrieden gezeigt haben, hat die Politik von sich aus bis dato keine Alternativen angeboten", sagt Agotić. Und so müssen sich die Eltern in Kroatien für ihre Kinder nach wie vor entweder für den kroatischen Unterricht oder eines der drei Minderheitenmodelle entscheiden.

"Interkulturelles Lernen durch persönliche Erzählungen“

Schon nach den ersten Gesprächen zwischen der Produktionsfirma Fade In und dem Nansen Dialogue Centre Osijek wurden konkrete Pläne für ein Projekt mit dem Namen "Interkulturalno obrazovanje kroz osobne povijesti“ (Interkulturelles Lernen durch persönliche Erzählungen) ausgearbeitet. Im Mittelpunkt des  Projekts stand von Anfang an die Idee der Produktion eines Dokumentarfilms "mit dem Ziel, durch das Medium Film die kulturelle Diversität und die Stärkung der Zusammenarbeit unter den Jugendlichen aller nationalen Zugehörigkeiten zu fördern", wie es offiziell auf der Homepage des Projekts heißt.

Das Projekt wurde in den Schulen von Vukovar und Beli Manastir, einer weiteren multiethnischen Stadt in Ostkroatien, ausgeschrieben. "Schon nach kurzer Zeit haben sich 29 Schüler bei uns gemeldet", sagt Agotić.

Biljana, eine der Teilnehmerinnen des Projekts, gibt offen zu: "Ich habe mich am Anfang nur angemeldet, um der Schule zu entfliehen. Ich konnte mir unter den Begrifflichkeiten nur schwer vorstellen, was sie bedeuten." Nach den ersten Workshops wurde ihre aber klar: "Ich gehöre hierher."

Aus 29 werden "Ostkroatiens 13"

Nicht alle Teilnehmer hatten allerdings die Kraft und die familiäre Unterstützung, um das Projekt zu beenden. "Die ersten sind nach den ersten Treffen, wo der zeitliche Arbeitsaufwand thematisiert wurde, abgesprungen", erzählt der Regisseur des Films, Velimir Rodić. Andere mussten aufgrund des Drucks aus dem familiären und persönlichen Umfeld das Projekt verlassen. "Von anfänglich 29 Teilnehmern haben 13 bis zum Schluss durchgehalten", so Rodić.

Das Projekt, das 18 Monate dauerte und den Teilnehmern und ihren Familien viel abverlangte, bestand aus zahlreichen Workshops und den Dreharbeiten zum Dokumentarfilm, der schlussendlich den Namen "Oš' me pozdraviti u busu?" (Würdest du mich im Bus grüßen?) erhielt.

Fehlendes Traumazentrum

Der ganze Dokumentarfilm wurde in zahlreichen Drehtagen eigenständig von den Schülern gedreht. Gezeigt werden im Film die Familienmitglieder der Schüler und sie selbst. Die Schüler, die alle nach dem Krieg zur Welt kamen, aber die "unverarbeiteten Folgen des Krieges auf ihren Schultern tragen müssen, obwohl sie dafür nichts können", wie es Agotić formuliert, konfrontieren darin ihre Familien mit der Vergangenheit. Diese erzählen über ihre Erfahrungen aus der jugoslawischen Vorkriegszeit, dem Krieg und dem Leben nach dem Krieg, aber auch der derzeitige Alltag der Schüler wird im Film thematisiert.

Die heutzutage oft tabuisierte jugoslawische Vergangenheit wird dabei von allen Interviewten sehr positiv dargestellt. "Damals hat es keine Rolle gespielt, wer Serbe oder Kroate ist", sagt eine Protagonistin des Films. "Druženje" (gesellschaftliches Zusammenleben und Zusammenhalten) von einst vermissen alle interviewten Personen. Eine Protagonistin erinnert sich, wie früher die Lieder aus allen jugoslawischen Gegenden gesungen wurden und heute aufgrund der politischen Implikationen das nicht mehr der Fall ist: "Früher sangen wir Lieder aus allen Regionen, heute ist das anders. Ich singe nur noch kroatische Lieder, aber wenn ich alleine bin, dann singe auch 'one pjesme' (die anderen Lieder, Anm.)."

Seelische Wunden

Der Teil, in dem über den Krieg gesprochen wird, verdeutlicht am besten, wie traumatisiert alle noch sind. "Ich konnte mir vor dem Krieg nicht vorstellen, dass Menschen hassen können. Seitdem habe ich Angst", sagt eine Protagonistin. Eine andere erzählt, dass ihr damaliger Verlobter bis heute vermisst wird: "Ich werde ihnen nicht verzeihen können, bemühe mich aber", sagt sie. Wiederum ein anderer erzählt, mit den Tränen kämpfend, wie seine Freundschaft zu Stipe, "wir waren wie Brüder", in die Brüche ging. Es wird sehr schnell deutlich, dass alle, unabhängig von ihrer ethnischen/nationalen Zugehörigkeit, im Krieg gelitten haben. Einig sind sich alle, dass sie etwas "Positives" ihren Kindern zurücklassen müssen, doch die unverarbeiteten seelischen Wunden erschweren merklich das aufeinander Zugehen.

"In Beli Manastir ist die Situation etwas entspannter, aber in Vukovar spürt man die Folgen des Krieges auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens, und wie traumatisiert alle sind, aber nach wie vor gibt es in Vukovar kein Traumazentrum", kritisiert Agotić.

"Damit die Wunden heilen können, müssen sie gesäubert werden"

Die Schüler aus dem Film "Oš' me pozdraviti u busu?" haben nach den Dreharbeiten noch viele Treffen gehabt, bei denen sie das Projekt Revue passieren lassen und ihre Erfahrungen austauschen konnten. Für Božo wurde durch das Projekt eines klar: "Damit die Wunden gänzlich heilen können, müssen sie, bevor sie zuzuwachsen beginnen, gesäubert werden, sonst eitern sie und hinterlassen mit Hass erfüllte Narben. Das ist oft aber ein sehr schmerzlicher Weg." Diesen sind die Schüler und ihre Familien gegangen.

Illusionen wollen sich aber die Organisatoren nicht hingeben. "Nach der Beendigung des Projekts werden alle wieder in ihr gewohntes Umfeld zurückkehren. Ob und wie die Erfahrungen des Projekts auf sie und ihr Umfeld wirken werden, wird sich noch zeigen", sagt Željka Kovačević.

Die Projektteilnehmer selbst kritisieren die schulische Trennung und sagen, dass ihnen durch die Teilnahme und das Kennenlernen der jeweils anderen Seite viele Ängste und Vorurteile genommen wurden. "Wir sind jetzt eine Einheit und planen schon ein weiteres gemeinsames Projekt", sagt Biljana.

Erste integrative Schule in Vukovar geplant

Das Projekt habe eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass ein "normales“ Zusammenleben, wenn alle an einem Strang ziehen, möglich sei. Dafür seien aber auch Veränderungen im schulischen Bereich nötig, und die Politik sei jetzt am Zug, so Agotić. Wie es aussieht, trägt der jahrelange Kampf des Nansen Dialogue Centre Osijek für eine integrative Schule, gestärkt durch die positiven Reaktionen auf den Film "Oš' me pozdraviti u busu?", langsam Früchte.

Denn laut einem aktuellen Bericht der kroatischen Zeitung "Novi List" vom 26. Mai soll es ab dem Schuljahr 2015/16 in Vukovar die erste "integrative Schule" geben, die kroatische, serbische und Schüler anderer Minderheiten gemeinsam besuchen werden können. (Siniša Puktalović, daStandard.at, 5.6.2014)