Der Jungsozialist Boris Ginner kritisiert im Standard vom Wochenende mit Blick auf die SPÖ und den EU-Wahlkampf. "Inhalte? Antworten? Weit gefehlt." Immerhin hat der sozialdemokratische Spitzenkandidat Martin Schulz sich um eine wirtschaftspolitische Alternative bemüht. Gegen die herrschende und angeblich alternativlose Austeritätspolitik sollte eine Alternative formuliert werden. Schulz hat die wachsende Ungleichheit der letzten dreißig Jahre in Europa als zentrales Problem identifiziert. Und entsprechende Politiken für mehr Umverteilung von oben nach unten angekündigt.

Über Fragen der Umverteilung hat die Sozialdemokratie jedoch den Anspruch auf das Thema aufgegeben, das seit ihrer Gründung konstitutiv ist und sie zur wichtigen politischen Kraft werden ließ: die Gestaltung einer besseren Zukunft für die breite Bevölkerung.

Dabei gibt es eine internationale Debatte, an der sich auch sozialdemokratisch orientierte Nobelpreisträger wie Joseph Stiglitz mit einer nach ihm benannten Kommission beteiligen. Ziel ist die Stärkung eines alternativen Verständnisses von Wohlstand und eine damit einhergehende zukunftsfähige Politik. Doch das Thema spielte im EU-Wahlkampf kaum eine Rolle. Eigentlich erstaunlich.

Bislang gilt die jährliche Zunahme des Bruttosozialprodukts als der zentrale Wohlstandsindikator. Die aktuellen Krisenpolitiken bestätigen das. EU-Kommission und Rat entwerfen Pakte und Pakete für "Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit". Doch steigende Gesundheitskosten aufgrund von Burn-outs steigern das Wachstum - aber nicht den Wohlstand. Es wird längst Kritik laut an dieser einseitigen Orientierung.

Zukunftsfähige Politik sieht anders aus. Um Wohlstand zu schaffen und zu sichern, bedarf es einer grundlegend anderen Richtung. Nur damit kommt das progressive gesellschaftspolitische Spektrum wieder in die Offensive, gewinnt Glaubwürdigkeit und Gestaltungsmacht.

Unkontrollierbare Krisen

Seit zwanzig Jahren wird diskutiert - und der jüngste Bericht des Weltklimarates IPCC bestätigt es -, dass es um die Transformation von Gesellschaften geht, deren Wohlstand bisher auf fossilen Energieträgern beruht. Neben den unabsehbaren Gefahren des Klimawandelns birgt das bisherige Wirtschaftsmodell einigen Konfliktstoff, wie uns im Kontext der Ukraine-Krise vorgeführt wird: die europäische Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten. Das vielfach postulierte "postfossile Zeitalter" muss aus vielen Gründen eingeleitet werden. Das ist eine zu gestaltende Zukunftsaufgabe, in der insbesondere die sozial Schwächeren mitgenommen werden müssen. Denn sie sind von steigenden Energiepreisen und Umweltgefahren stärker betroffen.

Zweitens: Die heute vorherrschende gesellschafts- und wirtschaftspolitische Logik ist jene des Profitmachens und der expansiven wirtschaftlichen Aktivitäten. Das verursacht immer stärkere und unkontrollierbarere Krisen. Und dies nicht nur aufgrund der deregulierten Finanzmärkte. Auch der scheinbare Zwang zur endlos wachsenden Produktion von Gütern und Dienstleistungen wird gesellschaftlich teuer erkauft. Die Löhne werden gedrückt und jungen Menschen keine Perspektiven gegeben. Wachstum kann angeblich nur gesichert werden, wenn die Gewinne stimmen. Doch mit Wohlstand geht das nicht unbedingt einher. Anders gesagt: Wirtschaftswachstum selbst ist ein destabilisierender Faktor geworden.

In dieser Konstellation erleben wir drittens an vielen Stellen die Diskussion um ein "gutes Leben". Immer mehr Menschen wehren sich gegen die Zumutungen aktueller Politik, sie wollen längst anders leben und arbeiten: sozial, ökologisch und gemeinsam. Gekämpft wird gegen Prekarisierung und für Arbeitszeitverkürzung, für selbstbestimmtes Wohnen und lebenswerte Städte. Das Versprechen "Wachstum gleich Wohlstand" wird immer weniger geglaubt und real erfahren.

Dass sich hierfür die Parteipolitik kaum interessiert, ist fahrlässig. Die scheint kein Sensorium für gesellschaftliche Stimmungen zu haben, bleibt ideenlos.

Zukunftsfähige Politik erfordert nicht nur, gerechter zu verteilen. So wichtig dieser Aspekt bleibt und die Öffnung der Diskussion hin zu Vermögensfragen in die richtige Richtung geht. Doch die soziale- und ökologische Gestaltung der Gesellschaft im umfassenden Sinne ist mehr.

Damit bietet sich eine Chance, europäische Politik und insbesondere Krisenpolitik ganz anders zu denken und anzugehen. Es geht um lebbare, für die Menschen attraktive Verhältnisse - kurz: um ein neues Wohlstandsmodell, um andere Formen der Ernährung und Mobilität, der Energieversorgung und Kommunikation, des Wohnens und Kleidens. Werden Veränderungen für Menschen erfahrbar und wird damit der zunehmenden Ausgrenzung begegnet, werden es auch Parteien rechts außen schwerer haben.

Sofort stellen sich bei einer solchen Orientierung progressiver Politik Fragen politischer und vor allem wirtschaftlicher Macht, aber auch solche von Gewohnheiten: von Menschen, die eingeschliffene Routinen verlassen müssen. Dagegen umsichtig und beharrlich anzugehen, sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit gestaltender und zukunftsorientierter Politik sein. (Ulrich Brand, DER STANDARD, 6.6.2014)