Als das russische PEN-Zentrum Chersonskij kürzlich die Mitgliedschaft anbot, reagierten Moskauer „Patrioten“ empört und beschimpften ihn wegen seiner dezidierter Pro-Majdan-Haltung als „jüdischen Faschisten“.

Foto: Wieser-Verlag

Das friedliche Leben in Odessa ist vorbei. Im ehemaligen Parteigebäude der KP sind mindestens vierzig Menschen umgekommen. Erschossen, erstickt, oder verbrannt.“ Für den Schriftsteller und Psychiater Boris Chersonskij ist der 2. Mai 2014 der düsterste Tag in der Geschichte Odessas seit dem Zweiten Weltkrieg. „Dabei dachten wir immer, Odessa sei anders – weltoffen und europäisch.“ Das Gemetzel zwischen Majdan-Aktivisten und Russland-Befürwortern, mit dem alles begann, spielte sich direkt vor seiner Wohnung auf dem Preobraschenkij-Platz im Zentrum von Odessa ab.

Chersonskij bezweifelt, dass der Tod der Demonstranten je aufgeklärt werde, mit Blick auf seine im Vorjahr erschienenen Aufzeichnungen eines Psychiaters fügt er hinzu: „Ich habe in 40 Jahren psychiatrischer Praxis nichts erlebt, was der Hysterie seit Beginn des ukrainisch-russischen Konflikts gleichkäme!“

Eigentlich ist Boris Chersonskij, Jahrgang 1950, ein zurückgezogener Lyriker und Übersetzer – seine Tätigkeit als Arzt beendete er in den 1990er-Jahren, von 1991 bis Mitte der 2000er hatte er einen Lehrstuhl für klinische Psychiatrie an der Universität von Odessa inne. Und: Er ist „Odessit in fünfter Generation“. Ab den späten 60er-Jahren schrieb er Gedichte, die im Samisdat kursierten oder in Emigrantenzeitschriften publiziert wurden.

Breitere Anerkennung als Dichter fand er erst ein Jahrzehnt nach dem Ende der Sowjetunion; mittlerweile hat er sechs Gedicht bände veröffentlicht. Semejnij Archiw – deutsch: Familienarchiv, Chersonskijs Hauptwerk, erschien 2008 in einem renommierten Moskauer Verlag und wurde mit etlichen Preisen ausgezeichnet. Es hatte lange gedauert, bis man sich in Russland wieder für die „Lyrik der Diaspora“ interessierte.

Familienarchiv ist ein aus achtunddreißig Langgedichten bestehender Roman in großteils freien Versen und rekapituliert die Lebensgeschichten von vier Generationen: Ärzte und Lehrer finden sich da ebenso wie Revolutionäre, verschrobene Großtanten oder ein orthodoxer Priester. Die über das ganze 20. Jahrhundert verstreuten Lebensläufe spielen in Wilna, Berditschew oder Minsk, bündeln sich in Odessa, und verlieren sich in die sibirische Verbannung, in die Emigration nach Jerusalem oder Brooklyn. Das wichtigste Element dieses geradezu klassischen Familienclans aus Odessa ist für Chersonskij dessen Judentum: „Sie waren zwar alle assimiliert, aber dennoch jüdisch. Keiner von ihnen sprach Hebräisch, sie hatten auch keinerlei Bezug zu jüdischer Kultur oder religiösen Traditionen; ihr jüdisches Erbe bestand allein aus Scholem Alejchem.“

Am Anfang des Familienarchivs steht für dessen Verfasser ein mysteriöses Bild aus den Erzählungen seiner Großmutter über das Jahr 1910. Rachel, die sich später „russifiziert“ Raissa nennt, hatte bei einem Spaziergang auf der Burg von Kremenets einen Brunnen entdeckt – um dessen Tiefe auszuloten, warf sie einen Stein ins Dunkel hinab. Das Geräusch des Aufpralls war erst Minuten später zu hören.

Das Surreale sollte sich in allen Episoden fortsetzen, für weitere Idyllen war kein Platz mehr. Onkel Robert wird bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs aus München, wo er Medizin studiert, nach Russland abgeschoben. Ein Urgroßonkel aus Wilna, sozialdemokratischer „Bundist“ und Verleger von Tora-Ausgaben und frivolen Bildchen, taucht auf.

Die soeben noch bildungsbürgerlichen Interieurs in Odessa werden vom Bürgerkrieg hinweggefegt, auf den Terror der Kommunisten folgt jener der Nazis. Chersonskij bleibt in der Schilderung düsterster Tragödien wie absurder Zufälle gleichermaßen lakonisch, wenn es heißt: „Einmal rettete Jakow die Familie / weil er sich 1941 nicht / an die amtliche Verordnung hielt, / der zufolge Radioempfänger / abgegeben werden mussten (…) Sie erwarteten die Deutschen / als Befreier vom Bolschewismus. / Die Sendung des deutschen Radios / über das Weltjudentum / änderte ihre Pläne. / Die Flucht war überstürzt / und deshalb erfolgreich.“

Mit traumwandlerischer Stilsicherheit wechselt Chersonskij von Tragödien zu skurrilen Verwicklungen der Überlebenden, der Leser wird zum Lachen genötigt, mag er sich auch schon in der nächsten Malaise befinden.

Existenzielle Krisen

Ein halluzinatorisches Erlebnis des Autors, der als Kind seine Sommer bei den Großeltern in Czernowitz verbrachte, löst sich in lyrische Ekstase auf. Die Bodenöffnung unter einem Pflasterstein wird zum Ausblick auf den „nächtlichen Himmel, der mit Sternen bedeckt ist“; das Kind ahnt erstmals, „dass die Lichter die geöffneten Augen / von Millionen Schlafenden sind, / die von etwas Sonderbarem oder Schrecklichem träumen“. Oder da ist etwa Boba Katz – dessen Brüder wurden „in Galizien und Transnistrien zu Staub“, er hingegen ein berühmter Wissenschafter in den USA. Auf Verwandtenbesuch in Odessa während der bleiernen Breschnew-Jahre verlässt er slapstickartig die Szene und ruft dem Taxifahrer zu: „Brüderchen – nach Amerika, je schneller, desto besser.“

Chersonskij erinnert sich ebenso an die damalige Bespitzelung durch den KGB wie an die Auswanderungswellen seiner jüdischen Schul- und Studienfreunde, die mittlerweile über die ganze Welt verstreut leben. Die jüdische Bevölkerung der Einmillionenstadt Odessa beträgt heute knapp über ein Prozent. Boris Chersonskij selbst zog Emigration nie in Betracht. „Einer muss wachen“, heißt es bei Kafka.

„Erinnerungen, wie ich sie für dieses Buch jahrelang durchforstet habe, sucht man in Zeiten existenzieller Krisen auf“, sagt Chersonskij, „und der Untergang der Sowjetunion war eine solche Krise.“ Die Wiederentdeckung seines eigenen Judentums fand in das Familienarchiv Eingang mittels Gedichten über jüdische Ritual- und Alltagsgegenstände sowie durch eine Reihe von Aphorismen, die Talmud-Interpretation mit Sigmund Freud klonen.

Im Namen von Phantomzielen

Fragen der Identität, die bekanntlich nie einen Abschluss finden, haben für den russisch-jüdisch-ukrainischen Schriftsteller durch die jüngsten Ereignisse in der Ukraine auf unangenehme Weise an Aktualität gewonnen. Als das russische PEN-Zentrum Chersonskij kürzlich die Mitgliedschaft anbot, reagierten Moskauer „Patrioten“ empört und beschimpften diesen wegen dessen dezidierter Pro-Majdan-Haltung als „jüdischen Faschisten“. Der reagiert gelassen: „Ich denke, spreche und schreibe Russisch, aber ich bin weder Leibeigener der russischen Sprache noch deren Sklave. Und was soll ich zum jüdischen Faschisten sagen?“

Es wäre nicht Boris Chersonskij, hätte er nicht trotz angespannter Lage noch immer schwarzen Humor bereit: „Putin muss einmal die Devise des Club of Rome aufgeschnappt haben: ‚Think globally, act locally.‘ Im Krim-Konflikt versuchte er, globale Ziele zu erreichen. Unser Pech ist es, jener Ort zu sein, an dem er im Namen von Phantomzielen weiteragiert.“ Für den Kreml ist der Weg nach Odessa noch immer kürzer als jener des Kiewer Majdan nach Europa. (Erich Klein, Album, DER STANDARD, 7./8.6.2014)