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Eingedeckt mit Brasilien-Fanartikeln: Diese Frau weiß schon lange, welche Mannschaft als einzige in ihrem Fanherzen Platz hat.

Foto: Reuters

Wien - Im Fußball nennt man die Fans auch ehrfürchtig "den zwölften Mann". Das wird vor allem dann verständlich, wenn ein Verein mit einem sogenannten Geisterspiel bestraft wird und die Mannschaft zu Hause in einem leeren Stadion spielen muss. Das Fußballspiel bleibt ohne Fans zwar dasselbe, jedoch hat auch die lautstarke Unterstützung der Anhänger einen großen Einfluss auf den Verlauf einer Partie.

Der Wiener Anthropologe Philipp Budka erforscht diese Kultur auf den Rängen. Hinter dem Geschrei und Gesang der Fans verberge sich weitaus mehr, als man hört: "Fußball und Fankultur sind wie ein Mikrokosmos unserer Gesellschaft. Von fachlicher Seite aus interessiert mich vor allem die Vielfalt an sozialen und kulturellen Aspekten, die in der Fußballfankultur zutage treten, zum Beispiel Rituale, Symboliken oder eigene Sprachentwicklungen."

Deshalb gilt Budkas Interesse vor allem jenen Fans, die sich durch eine straffe Organisation und besonders leidenschaftliche Unterstützung auszeichnen: die Ultras. Häufig wird diese Ausprägung der Fankultur mit der Hooligan-Bewegung in einen Topf geworfen. Während es Letzterer in erster Linie um die Schlägerei mit gegnerischen Fans geht, steht für die Ultras die Unterstützung des eigenen Teams im Vordergrund: Für Dauergesang und Choreografien, zu der traditionell auch der umstrittene Einsatz von Pyrotechnik gehört, sind meist die Ultras verantwortlich.

Was heute zum Alltag in den Stadien gehört, ist noch gar nicht so lange Normalität: Im Zentrum von Budkas Forschung stehen die Ultras von Rapid Wien, deren erste Gruppierung sich 1988 formierte und damit die älteste im deutschsprachigen Raum ist. Budka konstatiert eine Verschiebung von der ursprünglich prägenden Kultur britischer Clubsupporter, die weniger organisiert fiebern, hin zu einem Fanverhalten mitteleuropäischer Prägung.

Familiäre Bindungen

Die Ultras kommen ursprünglich aus Italien, sind aber inzwischen im internationalen Fußball weit verbreitet. Diese Verschiebung erkläre sich laut Budka auch aus der Globalisierung und der technologischen Entwicklung. Solche Phänomene würden in anderen Ländern erheblich schneller bekannt und dementsprechend adaptiert. Hier spiegle sich auch die gesellschaftliche Entwicklung wider. "Angesichts des Verlustes von familiären Bindungen und gemeinsamen gesellschaftlichen Werten finden hier vor allem jüngere Männer eine Gemeinschaft mit festen Strukturen, in der sie sich aufgenommen fühlen." Man spricht ja auch von Fußball als "Religion".

Budka schränkt aber ein: "Das bedeutet jedoch nicht, dass sich alle Ultras in einer Lebenskrise befinden. Man findet hier eine Vielfalt von Persönlichkeiten wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen auch."

Budka setzt bei seinen Untersuchungen vor allem auf die in der Kultur- und Sozialanthropologie übliche Methode der teilnehmenden Beobachtung: Er setzt sich in der Feldforschung direkt mit den handelnden Personen auseinander und begleitet die Ultras regelmäßig zu den Spielen, um unmittelbare Erkenntnisse über diese Kultur zu gewinnen, die Fragebögen nicht zutage bringen.

Die Weltmeisterschaft eignet sich für Budkas Vorhaben aber weniger als Forschungsfeld: Da es bei diesem Zugang um eine Datenerhebung über einen längeren Zeitraum gehe, sei es schwierig, in diesem Kontext verwertbares Material zu sammeln.

Dass Österreich nicht mitspielt, mache die Angelegenheit aber nicht schwieriger: Die hiesigen Ultras haben sich ohnehin aus dem Fanumfeld der Nationalmannschaft ausgeklinkt.

Das kommende Turnier in Brasilien spielt für Alexandra Schwell und ihr Team vom Institut der Europäischen Ethnologie der Universität Wien eine weitaus größere Rolle: Die Wissenschafter erforschen im Rahmen des interdisziplinären Projekts FREE (Football Research in an Enlarged Europe) zusammen mit acht weiteren Universitäten aus sieben Ländern die europäische Fankultur aus verschiedenen Blickrichtungen. In diesem Zusammenhang beschäftigt sich etwa die Doktorandin Nina Szogs mit der türkischen Fankultur in Wien. Alexandra Schwell erklärt das Interesse ihrer Disziplin wie folgt: "Für uns Ethnologen ist Fußball weniger als Sport an sich interessant, sondern vielmehr als eine Arena, in der gesellschaftliche Machtbeziehungen und Zugehörigkeiten verhandelt werden."

Bei den Forschungen zur diesjährigen Weltmeisterschaft ist die Wiener Fraktion federführend: In diesem Zusammenhang sollen an allen acht Standorten teilnehmende Beobachtungen unter den Zuschauern durchgeführt werden. So erhofft man sich zusätzliche Erkenntnisse über Europas Fußballfans zu bekommen, die sich nicht unbedingt aus dem Aktenstudium und der Auswertung von Statistiken ermitteln lassen.

Trotz der europäischen Perspektive ist auch der Turnierstandort Brasilien von großem Interesse. Schwell: "Wir fragen uns, wie wir unser Europäischsein konstruieren, und zwar dadurch, wie wir Brasilien ansehen. Auf der einen Seite ist das ein von Klischees bestimmter Sehnsuchtsort. Genauso gibt es aber auch das angstbesetzte Bild, in dem Kriminalität und Armut bestimmend sind." Diese Vorstellungen sagen weniger über das Land selbst aus und viel mehr darüber, wie einzelne Akteure sich selbst sehen.

Ronaldos großer Zeh

Der wichtigste Punkt, warum Schwell die Zuschauer einer WM für so spannend hält, ist aber ein anderer: Für Ethnologen seien vor allem die Dinge von Interesse, die Menschen tun, ohne groß darüber nachzudenken. Eine Weltmeisterschaft sei daher ideal, um Fußball aus dieser Perspektive zu untersuchen: "Man findet hier die Experten, die genau wissen, wie Cristiano Ronaldos großer Zeh aussieht, aber auch die reinen Eventfans."

Die Weltmeisterschaft sei daher mit dem Karneval zu vergleichen, bei dem in der sozialen Interaktion bestehende Regeln außer Kraft gesetzt werden und völlig andere Gesetze gelten: "Wir können hier beobachten, wie sich Menschen plötzlich völlig anders verhalten als normalerweise: Sie weinen abrupt hemmungslos oder benutzen Schimpfwörter, die sie anderswo in Schwierigkeiten bringen würden." (Johannes Lau, DER STANDARD, 11.6.2014)