
"Wir wollen die Verantwortlichen dazu überreden, Daten zugänglich zu machen, und wir arbeiten an den Werkzeugen, die die Öffnung ermöglichen": Peter Murray-Rust in Wien.
STANDARD: Vor wenigen Tagen wurde in den Großbritannien eine Reform des Copyright-Gesetzes beschlossen. Sie besagt im Wesentlichen, dass man das Recht hat, Fakten aus der wissenschaftlichen Literatur zu entnehmen und für nicht-kommerzielle Zwecke zu veröffentlichen. Wie schätzen Sie diese Änderung ein?
Murray-Rust: Wir hoffen, dass es ein wichtiger Sieg in einem langen Kampf ist – und es ist leider ein langer Kampf. Viele sind auf unserer Seite, vor allem Bibliotheken und Wissenschafter, aber natürlich nicht die Verlage.
STANDARD: Man darf Ihnen zufolge veröffentlichtes Material nutzen und verwenden, "solange nicht ausführlich nicht-Faktisches verwendet wird". Was bedeutet das?
Murray-Rust: Nun, Copyright ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Zunächst einmal hat der Schöpfer von geistigem Eigentum die Rechte darauf, außer sie geben diese Rechte einem Verleger. Das beinhaltet nicht nur Text, sondern auch alle Zahlen, Tabellen, Grafiken usw. Nicht klar dabei ist, worauf der Verleger nun ein Copyright hat und was nicht dazu gehört ("un-copyrightable"). Wir gehen davon aus, dass Tatsachen Teil von Letzterem sind. "Wir sitzen hier in Wien": Das ist ein Faktum, darauf gibt es kein Copyright. Wenn ich diese Worte singe, oder sagen wir im wissenschaftlichen Zusammenhang: Wenn ich einen Sachverhalt sehr kreativ metaphorisch ausdrücke, dann wird das als kreatives Zutun bezeichnet. Ob und wie das zu schützen ist, das ist nicht klar.
STANDARD: Wenn Sie also bei einem wissenschaftlichen Verlag publizieren, ...
Murray-Rust: ... dann gehört dem Verlag nur, was copyrightable ist. Vieles gehört aber nicht dazu. Und etwa bei Abstracts (Zusammenfassungen von Studien) gibt es unterschiedliche Meinungen, ob dies nun ein kreativer Zusatz ist und daher dem Verlag „gehört“ oder Faktisches, das für alle zugänglich sein muss. Das alles kann vor Gericht geklärt werden. Die Probleme sind international, die genannte Gesetzesänderung betrifft zunächst nur das Vereinigte Königreich.
STANDARD: Sie tragen diese neuesten Entwicklungen nun gerade in Wien vor. Hat das vor allem mit der aktiven Unterstützung durch den Wissenschaftsfonds FWF, das Institute of Science and Technology Austria ISTA und die Akademie der Wissenschaften zu tun, oder ist es eher ein Zufall?
Murray-Rust: Ein wenig von beidem. Vor allem möchte ich den FWF für seine Bemühungen Richtung "Offener Zugang" preisen. Dazu kam Unterstützung von der Shuttleworth-Stiftung und anderen Stellen – und nun auch noch der Gesetzesbeschluss in Großbritannien: Das war ein glücklicher Zufall. Wir werden den Workshop über Data-Mining, den wir zum ersten Mal in Wien veranstalten, in den nächsten Wochen auch in Delhi, London, Berlin und anderswo machen.
STANDARD: Sie sprechen davon – das ist auch Teil Ihres Vortrags und Ihres Workshops in Wien –, dass man nun mit einem gründlichen Data-Mining beginnen kann. Will heißen?
Murray-Rust: Data-Mining kann durch das neue Gesetz erweitert durchgeführt werden. Was bisher schon offen war, konnte nach Daten angefragt werden. Jetzt kommt das "Geschlossene" dazu, der größere Teil der veröffentlichten Daten.
STANDARD: Sie sind im Beirat der Open Knowledge Foundation. Was ist deren Philosophie?
Murray-Rust: Sie basiert auf der Idee, dass Wissen für alle zugänglich sein soll. "Offen" bedeutet für uns, dass man es verwenden und weitergeben kann. Wir schauen darauf, wo Information offen zugänglich ist, wir wollen die Verantwortlichen dazu überreden, sie zugänglich zu machen, und wir arbeiten an den Werkzeugen, die die Öffnung ermöglichen.
STANDARD: Es wird manchmal argumentiert, dass Open Source als Publikationsquelle die Qualitätskontrolle beeinträchtigt und dass deshalb traditionelle wissenschaftliche Zeitschriften nötig sind.
Murray-Rust: Da gibt es viele Missverständnisse. Open Data und Peer Review (Begutachtung durch Fachkollegen) sind voneinander unabhängig, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Alle großen Open-Access-Journals führen Peer Reviews durch, genauso wie die mit Closed Access, also die klassischen Zeitschriften. Open Access hat zusätzliche Vorteile. Man kann die Peer Reviews an mehr Leute vergeben, andere können ebenfalls kommentieren, auch nach der Veröffentlichung.
STANDARD: Nun gibt es aber auch wachsende Kritik an Online-Zeitschriften, die es offenbar mit den Kontrollpraktiken nicht so genau nehmen; zum Beispiel der Artikel "Who’s Afraid of Peer Review?"
Murray-Rust: Ja, von John Bohannon. Er hat darauf aufmerksam gemacht, dass es Online-Zeitschriften gibt, denen es egal ist, was sie drucken. Es sind nur wenige, aber sie arbeiten manchmal so, dass es an Lockangebote aus Nigeria erinnert. Meiner Ansicht nach ist das kein ernstes Problem.
STANDARD: Auch nicht, wenn etwa die Kreationisten eigene Publikationskanäle schaffen, um ihre Alternative zur Evolutionslehre wissenschaftlich darzustellen?
Murray-Rust: Ich bin sicher, dass sie in der wissenschaftlichen Community völlig marginalisiert sind. Da jeder eine Zeitschrift gründen kann – was ja an sich gut ist –, findet man eben auch solche, die kreationistische Gedanken vertreten. Bibliotheken kaufen sie wohl, aber eher, damit man "fringe science" sehen kann, als wegen ihres wissenschaftlichen Werts.
STANDARD: Zurück zu den großen Verlagen, die oft sehr teure Zeitschriften anbieten und auf ihrem Copyright beharren. Sehen Sie den Anfang von deren Ende?
Murray-Rust: Das ist meine Hoffnung. Ob es passieren wird, weiß ich nicht. Wir stehen auf des Messers Schneide. Im digitalen Zeitalter sehe ich enorme Möglichkeiten der Aufklärung. Es gibt aber auch das Potenzial für eine digitale "Dunkelheit". Die größten Verlage, allen voran Elsevier, könnten das Publikationswesen völlig kontrollieren. In diesem Fall kommt es zum Stillstand, zu einer Orwellschen Variante der Wissenschaft, Kontrolle durch Big Brother. Wir kommen dann in eine Phase, in der alles unter elektronischer Kontrolle geschieht.
STANDARD: Was kann man da tun?
Murray-Rust: Es gibt eine Web-Initiative, Mendeley . Das ist ein sehr nützliches Literaturverwaltungsprogramm. Tausende Wissenschafter sind ihm beigetreten und haben ihm alle ihre wissenschaftlichen Quellen anvertraut. Nun, letztes Jahr wurde Mendeley von Elsevier gekauft, um vielleicht 80 Millionen Euro, keiner weiß genau wieviel. Das bedeutet, dass der Verlag das Programm als sein eigenes soziales Medium für Akademiker verwenden kann und Kontrolle über alles hat, das sie erforschen. Ich fürchte, dass Elsevier damit zu den Unis geht und sagt: Hier ist ein System, mit dem Sie alle wissenschaftlichen Studien verwalten können.
STANDARD: Eine Art Google der akademischen Welt.
Murray-Rust: Genau. Wobei Google mit Scholar da ja auch drinnen ist. Ich habe dieses Szenario übrigens nicht erfunden. Der Vizepräsident der Universität Cambridge hat vor ein paar Wochen gesagt, dass Elsevier Open Data als privates Unternehmen kontrollieren möchte.
STANDARD: Ist Open Data denn zu kaufen?
Murray-Rust: Es ist eine Technologie nötig, um die Idee der offenen Daten zu managen. Und das machen Verlage wie Macmillan, Elsevier und andere.
STANDARD: Wie offen sind dann diese Daten noch?
Murray-Rust: Meiner Ansicht nach sind sie es nicht. Die größte Open-Data-Plattform, in dem Wissenschafter ihre Daten verwalten können, ist Figshare, und ich habe großen Respekt vor ihr. Figshare wird seit einem Jahr von Digital Science kontrolliert.
STANDARD: Und was ist Digital Science?
Murray-Rust: Macmillan…
STANDARD: Warum wurde die Kontrolle einem Verlag überlassen?
Murray-Rust: Wegen eines finanziell attraktiven Angebots. Und Unis können ihre Daten darin verwalten. Meine Sorge ist, dass solche Plattformen zu den Infrastrukturen der Universitäten werden, und den großen kommerziellen Unternehmen dahinter traue ich nicht.
STANDARD: Gibt es Ihrer Ansicht nach einen Königsweg zu einer nicht-kommerziellen Verwendung und Verwaltung wissenschaftlicher Informationen?
Murray-Rust: Ich bin von den Unis enttäuscht. Sie sollten das tun, und sie tun’s nicht.
STANDARD: Unis können sich andererseits die hohen Kosten, die ihnen Verlage auferlegen, doch gar nicht mehr leisten. Ihre Kollegin Michelle Brook hat kürzlich geschrieben, dass 19 wichtige britische Unis jährlich 14,4 Millionen Pfund plus Mehrwertsteuer nur für Zeitschriften-Abos ausgeben.
Murray-Rust: Das ist alles relativ. Weltweit werden jährlich 400 Milliarden Dollar für öffentlich geförderte Forschung ausgegeben. Davon dürften ca. 25 Prozent für Daten sein, und die Institutionen haben nicht die Infrastrukturen, das alles zu managen. Es gibt vielleicht genug Geld für die Forschung selbst, aber zu wenig, um die resultierenden Daten optimal zu verwalten und zugänglich zu machen.
STANDARD: Ist Elsevier also der Feind, ein Gelddrucker, von dem man sich fernhalten soll, oder ein potenzieller Partner?
Murray-Rust: Okay, ich versuche, so objektiv wie möglich zu sein. Bis jetzt waren Verleger nötig gewesen. Ihre Rolle hat sich geändert. Heute sind die meisten Verleger ernste Hindernisse auf dem Weg zum Fortschritt und keine Hilfe. Zurzeit verdienen sie sehr gut, bis zu 40 Prozent Profit, und müssen sehr wenig dafür tun. Sie widersetzen sich mit rechtlichen Mitteln und mittels Lobbying jeder Veränderung. Elsevier etwa hat fünf Lobbyisten auf dem Capitol Hill in Washington. Sie haben ein Verlegermodell aus dem 19. Jahrhundert mit den Ressourcen des 21. Jahrhunderts. Ich möchte, dass sich das ändert.
STANDARD: Sie möchten also, dass Forschungsergebnisse kostenlos jedermann zur Verfügung stehen.
Murray-Rust: Ich habe ein ganz einfaches Mantra: Geschlossener Zugang bedeutet, dass Menschen sterben.
STANDARD: Wegen mangelnder Transparenz medizinischer Forschungsergebnisse?
Murray-Rust: Ja.
STANDARD: Mir fällt dazu die Situation der Printmedien ein. Da wird ja auch argumentiert, dass man für Nachrichten nicht zu zahlen braucht, dass alles gratis sein sollte. Aber die Produktion von relevanten Nachrichten kostet eben. Und der Unterschied zwischen kommerziellen und wissenschaftlichen Informationen? Für Wissenschafter sind die Daten ja auch in gewisser Weise kommerziell und profitabel, gut für ihre Karriere. Sagen Sie mir, wo der prinzipielle Unterschied liegt.
Murray-Rust: "Nicht kommerziell" hat eine technische Bedeutung, und das hat mit dem neuen Gesetz in Großbritannien zu tun: Wir können Data-Mining für nicht-kommerzielle Zwecke betreiben. Meiner Ansicht sollte es für alle Zwecke möglich sein und für jeden, auch für Unternehmen. Aber die Beschränkung auf nicht-kommerziell ist halt die rechtliche Position, die wir zurzeit haben.
STANDARD: Andererseits werden Forschungsergebnisse von Unis patentiert. Wie passt das ins Bild?
Murray-Rust: Manche Unis betreiben das sehr zielstrebig, andere haben Schwierigkeiten damit. Und nur wenige verdienen damit wirklich gutes Geld, die University of Florida zum Beispiel viele Jahre mit dem Getränk Gatorade. Das Problem, das ich mit Patenten habe, ist, dass sie Innovationen behindern. Man forscht ja wie auf einer Pyramide, auf früheren Ergebnissen basierend. Und wenn die alle patentiert sind, dann wird die weitere Arbeit äußerst umständlich.
STANDARD: Sie scheinen mit Ihren Argumenten für einen offenen Zugang zu allen Daten, obwohl sie vernünftig klingen, auch innerhalb der Gemeinschaft der Wissenschafter in der Minderheit zu sein. Wieso?
Murray-Rust: Das Hauptproblem sind die etablierten, älteren Akademiker. Die sind mit dem Zustand zufrieden, das System des traditionellen Veröffentlichens in den wichtigen Zeitschriften bringt ihnen Vorteile. Die jüngeren haben große Schwierigkeiten, sich dieser Tradition zu entziehen.
STANDARD: Gibt es konkrete Ziele, die Sie mit dem Data-Mining anpeilen?
Murray-Rust: Wir planen, 100 Millionen Fakten pro Jahr aus der wissenschaftlichen Literatur zu extrahieren und die Technologie und die Arbeitsgemeinschaften dafür zu entwickeln. Ich möchte noch einmal betonen, dass dieses Projekt für alle Bürger da sein soll, nicht nur für den akademischen Bereich. In einem Teilprojekt arbeiten wir daran, dass auch vierjährige Kinder eine Rolle spielen können. (Michael Freund, DER STANDARD, 11.6.2014)