Dem deutschen Soziologen und Philosophen Oskar Negt fehlt in den Bildungsinstitutionen das Erlernen von intellektueller Beweglichkeit, gerade diese Fähigkeit wäre zukunftsversprechend.

Foto: Corn

STANDARD: Sie beschäftigen sich intensiv mit Europa und plädieren für eine gemeinsame Identität. Sie betonen aber auch, wie wichtig Verwurzelung für Menschen ist. Wie geht das zusammen?

Oskar Negt:  Der Mensch ist nur dann beweglich, wenn er einen Ort hat, zu dem er zurückkehren kann. Ich denke da vor allem an Ernst Blochs Heimatbegriff: Heimat als eine Art Kindheitstraum. Es ist ein Ort, der zwar in der Kindheit vermutet wird, wo niemand war, aber alle hinwollen. Es geht um eine existenzielle Bestimmung und Verankerung. Der Mensch hat ein existenzielles Naturrecht darauf, irgendwo festen Boden unter den Füßen zu haben. Jeder Mensch muss das Gefühl haben können, hier habe ich Anerkennung, hier kennen mich die Menschen. Gerade die aktuellen Ideologien von Arbeitsbeziehungen führen dazu, dass die Menschen immer stärker das Gefühl haben, sie werden herumgestoßen.

STANDARD: Wie sehr hängen Ihre Vorstellungen von Verankerung mit Ihrer eigenen Lebensgeschichte zusammen? Sie mussten schon mit elf Jahren flüchten.

Negt: Wenn man in meinem Alter in die Kindheit blickt, erkennt man viele Strukturen, die schon seit der Kindheit da sind. Bei mir ist der Europagedanke schon sehr früh angelegt. Auf der Flucht aus der Festung Königsberg nach Dänemark war es für mich so selbstverständlich, dass Europa eine Einheit benötigt. Die Friedensfähigkeit des europäischen Kontinents war und ist ein zentraler Punkt meiner ganzen Lebensgeschichte.

STANDARD: Zahlreiche Wortmeldungen vor der Europawahl zeigten, dass für viele Menschen das Gegenteil gilt: Sie können absolut keinen Zusammenhang zwischen ihrem eigenen Leben und Europa erkennen. Warum?

Negt: Sehen Sie, das ist das Problem. Als im Römischen Reich die Bürgerrechte verliehen wurden,  Civis romanus sum, wussten die Menschen, was sie von diesem Rechtssystem hatten. Doch die heutige Konzentration des europäischen Einigungsbestrebens auf Geldverhältnisse, auf ein kaltes Medium, hat alle anderen Verhältnisse außer Kraft gesetzt. Es spüren immer mehr Menschen, dass dieses Europa ein Europa der Unternehmen ist. Ein Europa, das nur Menschen etwas gibt, die in den privilegierten Schichten leben.  Aber nichts für den griechischen Bauern. Für ihn ist es egal, von wem er ausgebeutet wird – ob von Brüssel oder von Athen. Als ich mit griechischen Jugendlichen diskutierte, sagten sie zu mir: Europa – das ist für uns eine Größe, die uns etwas nimmt.

Ein so großes Experiment wie Europa kann nur mit einer gewissen Leidenschaft funktionieren, wenn auch mit einem utopischen Überschuss. Aber das sehe ich im Moment überhaupt nicht.

STANDARD: Es gibt gegen das Projekt Europa nicht nur Abneigung aus nationalistischen Gründen oder weil man Angst hat, dass einem etwas genommen wird. Es gibt sie auch aufgrund dessen, was vor den Toren und Meeren Europas mit Flüchtlingen passiert.

Negt: Ich bin der Auffassung, dass das Elend der anderen in dem Maße verringert werden kann, wie europäische Reformen stattfinden. Eine Gesellschaft, die reformfähig ist, die sich ihrer Produktivität und ihrer Ausgrenzungen bewusst ist kann auch etwas hergeben, es kann Solidarität entstehen. Angstbesetzte Menschen, die das Gefühl haben, ihnen wird etwas genommen, die geben auch nichts her.

STANDARD: Und die Ängste der Menschen in Europa wachsen?

Negt: Ja, wenngleich die Angstfantasien vielleicht größer sind, als die Angst in der Realität begründet ist. Aber das heißt nicht, dass diese Angstfantasien nicht durch eine Realität eingeholt werden können.

Verschiedenste Ängste – Überlebensängste, Verlust von sozialstaatlichen Sicherungen, fragmentierte Arbeitssituationen – verknüpfen und akkumulieren sich, und man kommt damit nicht mehr zurecht. Dieser Angstfaktor hat für das Entstehen einer erstaunlich breiten rechten Front – denken wir an das Ergebnis der EU-Wahl in Frankreich – große Bedeutung. Und zum ersten Mal seit der Nachkriegszeit schlagen sich sozialdarwinistische Überlebenskämpfe in einer massenhaften Weise nieder.

STANDARD: Sie sehen Europa mehr in einer kulturellen Erosionskrise denn in einer Finanzkrise. Was bedeutet das?

Negt: Ich glaube, dass wir in einer Zwischenwelt leben. Alte Werte, Haltungen oder Normen sind nicht mehr ungesehen gültig und können auch schwer der neuen Generation vermittelt werden. Man kann etwa nicht mehr das Familienbild der Nachkriegszeit vermitteln. Wir befinden uns in einer intensiven geistigen, kulturellen Suchbewegung. Das bedeutet aber auch, dass alte Loyalitäten – etwa zu Parteien oder Gewerkschaften – aufgelöst werden. Das Zerbrechen dieser Bindungen enthält zwar ein Freiheitsmoment, aber die Bindungsbedürftigkeit nimmt zu. Von den Angeboten von Nähe oder Kameradschaft lebt in Europa auch der Rechtsradikalismus. Wenn eine demokratische Gesellschaftsordnung diese Angebote nicht macht, intensivieren sie sich.

Doch die demokratischen Angebote können keine Autoritätsangebote sein. Und weil eine demokratische Gesellschaftsordnung die einzige ist, die gelernt werden muss, brauchen wir politische Urteilskraft.

STANDARD: Wie steht es um diese Urteilskraft, um die politische Bildung der Menschen?

Negt: Wenn Sie sich anschauen, dass ein Drittel der Österreicher – und das wird in anderen Ländern ähnlich sein – sich einen starken Führer zurückwünschen, hat die politische Bildung wohl versagt. Jedenfalls ist es nicht gelungen, so etwas wie eine demokratische Option herzustellen. Eine solche Option müsste aber in die Alltagsverhältnisse der Menschen einbezogen werden, in ihre Utopien. Das wäre eine politische Bildung zum aufrechten Gang.

STANDARD: Sie sind selbst in der Erwachsenenbildung engagiert, die lange auch für die Demokratisierung von Wissen stand. Warum haben Volkshochschulen und Erwachsenenbildung in den letzten Jahren an Bedeutung verloren?

Negt: In Deutschland gibt es etwa 1.400 Volkshochschulen, noch immer eine ziemliche Masse. Dennoch gibt es schon länger das Problem, dass dort vor allem auf technische Kompetenzen fokussiert wird. Dadurch findet ein Entpolitisierungsprozess statt, der nichts mit den Sparmaßnahmen zu tun hat. Er hat vielmehr mit der Glaubensgewissheit zu tun, dass Demokratie durch die Dreiteilung der Gewalten gesichert ist. Doch das wird heute infrage gestellt. Orbán, oder wie sie alle heißen, will keine sozialstaatlich gefestigte Demokratie, wie sie in der Nachkriegszeit entstanden ist. Einer der kollektiven Lernprozesse nach 1945 bestand darin, erkannt zu haben, dass die Existenzsicherheit der Menschen und das Gefühl, dass sie nicht herumgestoßen werden, ein wesentliches Element der Stabilität von Demokratien sind. Wenn das zerbrochen wird, wenn der Sozialstaat geplündert wird, dann ist Demokratie auf das Äußerste gefährdet.

STANDARD: Auch mit einer anderen Bildungsinstitution, den Universitäten, sind Sie unzufrieden. Vor allem seit dem Bologna-Prozess. Wo liegt das Problem?

Negt: Es gibt genügend Schulversuche, die zeigen, dass das Sammeln von "Points", die Akkumulation von Abschlüssen im Grunde ein verständnisschwaches Lernen privilegiert, das gerade nicht dazu geeignet ist, übertragen zu werden. Der herrschende betriebswirtschaftliche Leistungsbegriff ist der Komplexität der gesellschaftlichen Prozesse überhaupt nicht angemessen. Es wäre vielmehr die intellektuelle Beweglichkeit, die zukunftsversprechend wäre. Die drei Ebenen von Lernen, also kognitives Lernen, emotionales und soziales Lernen, müssen eine Einheit bilden.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt, Sie hätten sich in der IG Metall immer wohler gefühlt als an der Universität. Wie das? Immerhin waren Sie mehr als 30 Jahre an der Universität tätig.

Negt: Ich habe diesen akademischen Betrieb immer als etwas verstanden, das mich mit Mitteln ausstattet, um etwas für Unterprivilegierte zu tun. Viele Kollegen und Kolleginnen haben den Bologna-Prozess zwar scharfsinnig kritisiert, aber am nächsten Tag im Dienst haben sie ihn realisiert. Ich habe mich auf meine Vorlesungen konzentriert, weil ich mich immer stark auf die Botschaft der großen Theorien verlassen habe. Ich mochte die Arbeit in Kleingruppen nicht. Und ich habe mich darauf konzentriert, etwas für die Arbeiterbewegung zu tun – was leider nicht immer geglückt ist.

Ich habe in meiner akademischen Arbeit auch die Arbeitsteilung nicht respektiert, habe vorwiegend Philosophie-Vorlesungen gehalten, obwohl ich einen Lehrstuhl für Sozialwissenschaft hatte. Ich bin auf keinen Kongressen gewesen, ich habe Angebote, Universitätsrektor zu werden, abgelehnt. Ich wollte einfach nicht, dass Bildung für mich zu einem Betrieb wird. Da habe ich mich rausgehalten.

STANDARD: Hingen Sie auch deshalb an Vorlesungen, weil dort die Studierenden einfach zuhören konnten? An den Universitäten fühlen sich ja, wie Sie selbst auch, nicht alle heimisch. Das macht es für manche schwerer, sich einzubringen.

Negt: Ja, das ist richtig. Der Druck, sich zu äußern, fällt weg. Meine Vorlesungen waren in Sälen mit 600 oder 700 Studierenden, da konnte sich der Einzelne verstecken - und das war sicher auch sehr produktiv für viele.

STANDARD: Sie hatten schon als Kind großen Bildungshunger, haben Goethe verschlungen. Warum hat Sie das damals so fasziniert? Immerhin wuchsen Sie auf einem Bauernhof auf und nicht in einem akademischen Haushalt.

Negt: Ich bin in einem Haushalt aufgewachsen, in dem die Kuriosität schon darin bestand, dass mein Vater Sozialdemokrat war – was für einen ostpreußischen Kleinbauern etwas Komisches war. Ich mache mir über vieles aus meinem Leben jetzt zum ersten Mal richtig Gedanken, unter anderem, woher diese Bildungsbedürftigkeit kam. Ich hatte das Gefühl, man muss etwas lernen, um auch gesellschaftlich anerkannt zu werden. In meiner Familie hatte ich Anerkennung immer schon, ich war das siebente Kind mit fünf älteren Schwestern, dadurch war ich innerhalb meiner Familie sehr privilegiert, und ich wurde von Anfang an hochgeschätzt und gestützt.

Ich habe einmal einen Buchhändler gefragt, was man benötigt, um gebildet zu sein. Der sagte: Ich habe da 16 Bände "Mayers Konversations-Lexikon", da machen Sie es am besten so, dass Sie vorne anfangen, bei A. Ich fand das sehr eindrucksvoll, hatte aber kein Geld und erzählte, dass ich auf einem Bauernhof lebe. Da haben wir Kartoffeln als Austausch für die 16 Bände verhandelt. (Beate Hausbichler, 18.6.2014)