"Erinnerung sei kein Sonntagsspaziergang" heißt es in Simone Schönetts neuem Roman "Der Private Abendtisch", in dem die Autorin trotz aller Tragik nicht auf den Humor vergisst.

Foto: Eva Asaad

Es sind die Außenseiter, die an den Rand Gedrängten, Sündenböcke und Machtlosen, die im literarischen Universum von Simone Schönett einen zentralen Platz einnehmen. In ihrem Debütroman Im Moos (2002) setzte sich die 1972 in Villach geborene Autorin mit der Geschichte ihrer Familie - Angehörige der Jenischen - auseinander und sieht auch im außerliterarischen Bereich ihre Aufgabe darin, diese durch die Jahrhunderte unterdrückte Volksgruppe vermehrt ins öffentliche Bewusstsein zu heben. In diesem Sinne weiß sie gut um die Schwierigkeiten der Erinnerungsarbeit.

Das große Thema der Erinnerung steht auch im neuen Roman Der Private Abendtisch zentral, wenn auch in einem gänzlich anderen, überaus faszinierenden wie unheimlichen Zusammenhang. Simone Schönett geht einem psychophysiologischen Phänomen nach: nämlich der Fähigkeit des menschlichen Körpers, frühkindliche Traumata nach jahrzehntelanger Verborgenheit sichtbar werden zu lassen. Sie vollzieht die körperliche Erinnerungsarbeit am Leben der Hauptfigur Mari. Doch welche belastenden Erlebnisse der Ich-Erzählerin, die als etwa 40-jährige Frau in Rückblenden berichtet, im Kleinkindalter widerfahren sind, soll hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden. Es würde das Wesentliche vorwegnehmen. Nur so viel: Ab der Hälfte des 200-seitigen Romans wird der Leser mit etwas konfrontiert, das sich bei Mari zuvor in Form von Würgeattacken, von Recken und Kehlezuschnüren zeigt, die plötzlich und in immer kürzeren Abständen auftreten. Irgendwas sitzt ganz fest und muss raus.

Der feierliche Titel Der Private Abendtisch führt dennoch nicht ganz in die Irre. Zumindest ist Maris neue berufliche Herausforderung der Auslöser einer Befreiung. Und so erfahren wir zu Beginn, dass es sich beim privaten Abendtisch um eine "Notlösung" für Mari handelt, "um zu Geld zu kommen". Das gastronomische Konzept, das sie sich zusammen mit Vera - "die einzige Freundin, die ich je hatte" - ausgedacht hat, geht voll auf und führt durch seine Einfachheit und lukullische Intimität zum durchschlagenden Erfolg. Dreimal in der Woche tischen sie im privaten Rahmen für fremde Gäste auf. Mari hat sich selbst das Kochen in ihrer Jugend in Italien, nachdem sie von ihren Eltern abgehaut ist, beigebracht, Sommelière Vera kümmert sich um die Getränke; auf dem Speiseplan steht zum Beispiel "marinierter Fenchel, Herrenpilzsuppe, dann Orangenhuhn, Melonenkompott und als Abschluss Heidelbeerschmarren".

Beide sind moderne, im Jetzt angesiedelte Figuren, die den Trend nach gutem, bodenständigem, weltoffenem Essen nutzen: Kreativität des Prekariats trifft auf gesettelte Bobos, alte Ehepaare schätzen die Atmosphäre ebenso wie Biedermeier- und Besserwisser-Paare. Die Gäste lieben das Ambiente und finden Maris "nackte Füße originell." Schönett schafft es auf wunderbare Weise, die Charaktere und ihre Denkmuster durch die Verwendung deren eigener Sprache aufzudecken. Es kommt schon einmal vor, dass Mari mit einem Gast in der Speisekammer verschwindet, während die Frau ahnungslos Zitronensalat isst.

Was Mari als zuvorkommende Gastfreundschaft interpretiert, offenbart aber ihr merkwürdiges Verhältnis zu Männern. Mit 17 ist sie die Geliebte des um viele Jahre älteren italienischen Malers Ettore, kurz danach trifft sie auf den Musiker und Lebemann Björn, mit dem sie Zwillinge bekommt; da ist sie 24, ohne Ausbildung und auf sich allein gestellt, denn Björn denkt nicht daran, das wilde Tourneeleben für eine Familienidylle aufzugeben.

Turbulentes Leben

Als alleinerziehende Mutter, stets am Existenzminimum, muss sie ihren Freiheitswillen stark eingrenzen; ab und zu schlägt sich die Hoffnungsvolle die Nächte um die Ohren, trifft aber zumeist Menschen, die sie ausnützen oder mit ihrem Gefühl des Verlassen- und Verlorenseins spielen, wie der Therapeut mit sexuellen Perversionen. Mari ist widersprüchlich. Ihre Therapeutin, die ihr zur Gewissheit über das eigene Ich verhilft, lernen wir schon im dritten Satz prophetisch kennen: "Sie hat es erkannt, an der Art, wie ich mein Essen arrangiere."

Simone Schönett, in Romanistik, Pädagogik und Medienkommunikation akademisch gebildet, schürft mit sprachlich-archäologischem Feingefühl, das sich in kurzen, leichtfüßigen Sätzen und metaphorischen Wendungen zeigt ("die abgefrühstückte Stadt", "das Wabenhaus"), das turbulente Leben Maris an die Oberfläche. Wie nebenbei führt sie das gestörte Verhältnis zu ihren Eltern, vor allem zum Lehrervater, aus und verhandelt die Freundschaft zu Vera, einer oberflächlich geselligen, beim näheren Hinblicken traurigen und unnahbaren Person.

Schönetts Leistung besteht auch darin, in der Tragik nicht auf den Humor zu vergessen. "Erinnerung sei kein Sonntagsspaziergang", heißt es an einer Stelle, aber sinnlose Spaziergänge sind der Lebenskünstlerin Mari fremd. So gart nicht nur in ihren Gerichten eine Menge Optimismus - das letzte Wort des Romans ist "Ja." (Sebastian Gilli, Album, DER STANDARD, 14./15.6.2014)