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Irland wird derzeit massiv mit seiner konservativen katholischen Vergangenheit konfrontiert. Es meldeten sich mehr als 3000 Opfer von sexuellem Missbrauch in katholischen Heimen.

Foto: EPA/Crawley

Tuam/London - Zwei spielende Kinder entdeckten das Massengrab. Sie schoben zerbrochene Betonplatten, die auf einem Rasenstück lagen, beiseite, "und dann sahen wir sie", berichtet Barry Sweeney gegenüber dem irischen Fernsehsender RTE: "Totenschädel, einer auf dem anderen, zwei, drei Meter tief. Wir sind panisch geworden und weggerannt." Das war vor vierzig Jahren.

Damals dachte man, die Toten wären die Opfer der großen Hungerkatastrophe von 1845 gewesen, die hier, im westirischen Tuam, besonders schlimm gewütet hatte. Ein Priester kam, segnete die Gebeine, der Betondeckel wurde wieder zurechtgeschoben. Dann wuchs, wortwörtlich, erst einmal Gras über dem Grab.

Fast 800 Kinderleichen

Bis eine lokale Historikerin eine ganz andere Erklärung für das Massengrab von Tuam präsentierte: Hier liegen - so konnte Catherine Corless anhand des Totenregisters von Galway nachweisen - die Knochen von 796 Säuglingen, Babys und Kindern. Sie kamen im katholischen St. Mary's Mother and Baby Home, einem Heim für ledige Mütter, das von 1925 bis 1961 an dieser Stelle stand, zur Welt und ums Leben.

"Die Kindersterberate lag dort bei mehr als 50 Prozent", sagt Susan Lohan von der Initiative "Adoption Rights Alliance". Zu Tausenden wurden die kleinen Leichen anonym verscharrt. Weil nach katholischer Lehre unehelich geborene Kinder nicht in geweihter Erde und einem anständigen Grab beigesetzt werden durften, wurden die Leichen kurzerhand in einem ausgedienten Abwassertank entsorgt.

"Gefallene Mädchen"

Schwanger und ledig: Das war im erzkatholischen Irland so gut wie ein gesellschaftliches Todesurteil. Alleinstehende Mütter galten als "gefallene Mädchen" und wurden in katholische Heime abgeschoben. Man schätzt, dass es zwischen 1900 und 1996 rund 35.000 Frauen waren.

In Heimen wie den sogenannten Magdalena-Wäschereien wurden sie wie Sklaven behandelt und oft gezwungen, ihre Kinder zur Adoption freizugeben. Genau dieses Schicksal war Thema des im letzten Jahr erschienenen Kinofilms "Philomena" von Stephen Frears mit Judi Dench in der Titelrolle.

Landesweite Untersuchung

Die toten Babys von Tuam haben in Irland zu großer Empörung geführt. Man ist entsetzt über die Menschenverachtung, die sich hinter der Entsorgung der Leichen offenbart. Die Babys lediger Mütter, bedauerte Enda Kenny, der Premierminister von Irland, seien "als minderwertige Unterart erachtet worden".

Ihre Behandlung und die ihrer Mütter sei "in vielen Fällen eine Abscheulichkeit" gewesen. Kenny kündigte eine landesweite Untersuchung der Vorgänge in solchen Heimen an.

Früher einmal war Irland das Lieblingsland aller Päpste, weil die Nation so erzkatholisch war - jetzt nicht mehr. Die Iren gehen immer mehr auf Distanz zur Kirche, weil das Massengrab von Tuam nur der letzte Fall in einer Reihe von Skandalen ist.

Systematische Vertuschung

Die Öffentlichkeit ist entsetzt über Enthüllungen, dass Kindesmissbrauch beim irischen Klerus weit verbreitet war. Zwei staatliche Kommissionen hatten die Anschuldigungen akribisch zusammengetragen.

Die Richterin Yvonne Murphy, die sexuellen Missbrauch in der Diözese Dublin untersucht hat, befand, dass es eine systematische Vertuschung seitens irischer Bischöfe und des Vatikans gegeben haben muss.

Dem Klerus, so die Richterin, sei es "vorrangig um die Reputation der Kirche" gegangen. Auch der Ryan-Report, der die Zustände in katholischen Kinderheimen, Schulen und Pflegestätten untersuchte, brachte Abgründe zutage: Die körperliche und sexuelle Misshandlung von Schutzbefohlenen durch Priester und Nonnen war an der Tagesordnung.

Mehr als 3000 Opfer hatten sich bei der Ryan-Kommission gemeldet, um zu berichten, was mit ihnen angestellt wurde. Kein Wunder, dass die "Irish Times" von der "tiefgreifendsten Krise in der Geschichte der irischen Kirche" schreibt. (Jochen Wittmann, DER STANDARD, 16.6.2014)