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Österreichs Politik fasst nicht nur Erdogan mit spitzen Fingern an, sondern auch die hier lebenden Migranten.
Wien – "Die zentrale Frage lautet doch: Warum wird Erdogan in Österreich von seinen Anhängern wie ein Popstar empfangen?" Das ist zumindest die zentrale Frage für Ibrahim Beyazit. Er hat auch gleich eine Erklärung für den Rummel um den Auftritt des türkischen Premiers Recep Tayyip Erdoğan am Donnerstag in Wien. "Die ganzen Türken, die seit Jahrzehnten hier leben, haben hier keine Heimat gefunden. Sie sind auf der Suche und klammern sich an einen Mann, der in der Türkei regiert - die Integration ist gescheitert."
In seinen Augen blitzt Wut auf. Beyazit hat lange überlegt, ob er dem Treffen zustimmen soll. Zu viel habe er schon gesagt, findet er: In seiner Funktion als Vorsitzender der türkischstämmigen Unternehmer beim Sozialdemokratischen Wirtschaftsverband (SWV) und auch als SPÖ-Mitglied – beides ist er heute nicht mehr. Für die Masse an Erdogan-Fans hierzulande macht er die österreichischen Politiker verantwortlich. "Sie sehen uns Türken nur als Trittbrett vor irgendwelchen Wahlen, dazwischen vermitteln sie, man solle froh sein, dass man dableiben darf." Auch die SPÖ? "Auch die SPÖ." Nach 28 Jahren sei er aus der Partei ausgetreten.
Erdogans Leute in den großen Parteien
Erdogan habe seine Leute überall eingebettet, meint Beyazit, in der SPÖ ebenso wie in der ÖVP. Bei der Wirtschaftskammer, wo er 2012 mit recht ehrgeizigen Zielen sein Amt übernommen hat, sei er, ein Alevit, mit seinen Ideen abgeblitzt. Mit politischem Hintergrund habe das Ende von Beyazits Tätigkeit nichts zu tun, beteuert SWV-Präsident Fritz Strobl später auf Nachfrage. Es habe bei manchen Projekten, etwa einem Award für türkischstämmige Unternehmer, unterschiedliche Auffassungen über die Umsetzung gegeben. "Wenn es darum geht, ob alle Mitglieder gleichwertig vertreten sind, kann ich jederzeit den Beweis antreten", sagt Strobl.
Zurück zu Erdogan. Beyazit, der eine Schlosserei mit einer Handvoll Mitarbeiter führt, sagt, er habe keine Konsequenzen zu fürchten, wenn er sich ablehnend äußert. Er habe vor allem österreichische Kunden. Aber das soll es geben: kritische Auslandstürken, die in ihrem Heimaturlaub plötzlich von Grenzbeamten schikaniert werden, Drohungen und zurückgezogene Aufträge. Deshalb möchte Canan*, die auch zu dem Treffen erschienen ist, anonym bleiben. "Ich mache viel Geschäft mit der Türkei, das kann ich mir nicht leisten." Die Trennlinie, von der Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) warnend sprach, verläuft nicht etwa zwischen Österreichern und Migranten, sondern innerhalb der türkischen Community.
Hickhack um Veranstaltungsort
Canan glaubt, ein ganzes Stadion mit Erdogan-Anhängern zu füllen wäre kein Problem gewesen. "35.000 bis 40.000 Leute, das ist schon realistisch." Das Organisationsteam für den umstrittenen Auftritt des Premiers erzählte in diversen Medien, es habe mit dem Ernst-Happel-Stadion Verhandlungen gegeben, sogar mit guten Chancen. Dem widerspricht Betriebsleiter Roland Stuiber: Ja, es habe eine mündliche Anfrage für einen Auftritt Erdogans gegeben, nein, das Stadion sei anlässlich des Rolling-Stones-Konzerts am 16. Juni wegen Auf- und Abbaus für eine ganze Woche gebucht gewesen. Das sei von Anfang an kommuniziert worden.
Die Union of European Turkish Democrats (UETD), treibende Kraft hinter Erdogans Österreich-Auftritt, hat viel Stimmung gemacht in den vergangenen Tagen. Die Stadt Wien habe dafür gesorgt, dass der Premier in die Albert-Schultz-Halle im Bezirk Donaustadt "verbannt" wurde. 7.000 statt 40.000 Fans, das macht schon einen Unterschied. "Keiner will uns anfassen", sagt Beyazit zu dem Theater um den Veranstaltungsort. "Hinter der Bühne werden wir umarmt, aber vor den Vorhang stellt sich keiner mit uns."
Ein Mitarbeiter aus dem Büro von Stadtrat Christian Oxonitsch (SP) versichert, die Stadt sei zwar Eigentümerin der Halle, könne aber nicht bestimmen, an wen der Pächter, das Eissportzentrum Kagran, vermietet. Da Erdogan privat nach Wien kommt, sei die Stadtregierung "überhaupt nicht involviert". Die Pächter würden außerdem "mördermäßig abcashen" für die Zweckentfremdung, ist er sich sicher. Wie viel genau für die Vermietung hingelegt wird, wisse er allerdings nicht.
Charismatischer Diktator?
Zurück zu Beyazit, der sich heute auf der Gegendemo einfinden will. Ob er jemals anders empfunden habe für den Premier, ihn vielleicht sogar einmal gewählt hätte? "Nein, nie. Er ist ein Diktator", schnaubt er verächtlich. Canan sieht das anders: "Er ist charismatisch. Hochintelligent. Und er hat in der Wirtschaft und in der Politik viel bewegt." Diktator würde sie ihn niemals nennen. Aber sein extremes Vorgehen gegen die Gezi-Park-Demonstranten und seine Verbalattacken nach dem Bergwerksunglück in Soma, das sei schon daneben gewesen, meint Canan.
Diese Selbstgefälligkeit sei ein "türkisch-orientalisches Phänomen nach einigen Jahren an der Macht", fügt sie erklärend hinzu. Dass Erdogan in Wien sprechen wird, findet sie in Ordnung – solange er nicht radikalisiere. "Alles, was er in Köln gesagt hat, war doch nur, dass wir Deutsch lernen müssen, uns anpassen sollen und dem Heimatland dienen sollen, ohne uns zu assimilieren."
Flächendeckende Vereinslandschaft
Was der türkische Premier damit auch gemeint haben könnte: "Geht in die Fraktionen, geht in die Ämter und Parlamente – ich will euch dort sitzen haben, wo ihr in meinem Interesse mitentscheidet." So zumindest sieht es Beyazit. "Erdogan will die Fäden ziehen. Wir haben in Österreich mehr türkische Vereine als türkischstämmige Einwohner", sagt er überspitzend. Wien, da sind sich beide einig, sei in den vergangenen sechs, sieben Jahren das Zentrum zur Steuerung der Auslandstürken geworden. "Weil es in Österreich, im Gegensatz zu Deutschland oder Frankreich, leider kein Kopftuchverbot gibt, ist es ein attraktives Land für die AKP", führt Canan aus. Jedes Jahr würden hunderte Studenten aus der Türkei nach Österreich geschickt, die in eigens angekauften Wohnheimen im Sinne Erdogans ausgebildet werden. "Seine Soldaten", sagt Beyazit.
Zurück zur österreichischen Innenpolitik. September 2013: Ein Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ), der bei einer Fernsehübertragung hochrot anläuft, weil ihn sein Herausforderer, Poltergeist Heinz-Christian Strache (FPÖ), mit einem Plakat für türkischstämmige Wähler konfrontiert. Unverblümter kann eine Kränkung kaum ausfallen. "Das muss man einmal bringen: Da sitzen zehntausende potenzielle SPÖ-Wähler vor dem Fernseher, und er traut sich nicht einmal zu sagen: 'Na und? Die Menschen leben hier seit Jahrzehnten. Wir sind stolz auf unseren Kandidaten'?", kränkt sich Canan noch heute.
SPÖ-Kandidat mit Millî-Görüş-Nähe
Der Mann auf dem SPÖ-Plakat heißt Resul Ekrem Gönültas, und seine Mitgliedschaft bei der Islamischen Föderation könnte der Grund für Faymanns heftige Abwehr gewesen sein: Die Islamische Föderation kooperiert mit der umstrittenen Millî-Görüş-Bewegung, die vom deutschen Verfassungsschutz wegen antisemitischer und islamistischer Ansichten beobachtet wird. Erdogan wurde im Umfeld von Millî Görüş sozialisiert, Kenner sagen sogar, die Bewegung habe ihn groß gemacht. In der Diplomarbeit von Sinan Ertugrul, "Identität und Integration - eine Analyse der türkischen Vereine in Österreich", aus dem Jahr 2011 ist die Rede davon, dass Millî Görüş 44 Mitgliedsvereine und Moscheen betreibt, 15 davon alleine in Wien. Der SPÖ-Mann Gönültas hat sich nie von Millî Görüş distanziert und – hier schließt sich der Kreis – ist seit 2009 Vizepräsident des Sozialdemokratischen Wirtschaftsverbands, aus dem Beyazit ausgeschieden ist.
Ein österreichischer Staatsmann, der sich für türkische Wahlwerbung schämt. Ein türkischer Staatsmann, der extra auf Besuch kommt - zwischen diesen Extremen bewegt sich derzeit die Selbstwahrnehmung vieler Türken in Österreich. "Viele von uns sind psychisch krank", sagt Canan. "Wir werden von unseren Nachbarn im Stiegenhaus nicht begrüßt, sondern belehrt und beschimpft", meint sie. "Das macht uns kaputt." Wenn nun aber der gemeine Österreicher generell etwas weniger herzlich im Umgang ist, auch mit seinesgleichen? "Dann heißt das doch nicht, dass es so bleiben muss, oder?", fragt Canan lächelnd. (Julia Herrnböck, derStandard.at, 19.6.2014)