Früher sagte man: "Frauen an den Herd", heute heißt es: "Sollen sie sich halt einbürgern lassen." Für die enge Verknüpfung zwischen Staatsbürgerschaft und Wahlrecht gebe es keinen sachlichen Grund, sagt die Juristin Martina Caroni.

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derStandard.at: Wir gehen grundsätzlich davon aus, dass wir ein allgemeines Wahlrecht haben. Sie zweifeln das an - warum?

Caroni: Historisch betrachtet hatte jede Zeit den Eindruck, wir hätten das allgemeine Wahlrecht erreicht – aber zu jeder Zeit gab es einen Ausschluss. Es ist immer die Frage: Wer gehört zum Volk, wer nicht? Früher war völlig klar, dass Frauen nicht zum Volk gehören – und das war akzeptiert, wurde nicht hinterfragt. Aber man muss laufend hinterfragen, ob das Stimmvolk "richtig" zusammengesetzt ist. Ich würde hinter die Aussage "Wir haben ein allgemeines Wahlrecht" ein Fragezeichen setzen.

derStandard.at: Ist das Wahlrecht in der Vergangenheit laufend auf neue Gruppen erweitert worden, oder gab es auch Rückschritte?

Caroni: Beides. Ich weiß aber nicht, ob das bewusste Entscheidungen waren, dass man jetzt offener sein will – es war eher ein "Es muss halt sein", weil der politische Druck zu groß war. Stichwort Frauenstimmrecht: Auch in Österreich brauchte es politischen Druck, die stimmenden Männer haben gesagt, sie sind damit nicht mehr einverstanden. Rückschritte gab es in den Vereinigten Staaten – da gab es zahlreiche Gliedstaaten, die im 19. Jahrhundert ein Ausländerstimmrecht kannten und dann zurückgekrebst sind. Da ist es eher eine bewusste Entscheidung gewesen – wir möchten nur jene mitentscheiden lassen, die im Sinne der Staatsbürgerschaft dazugehören. Die heutige Debatte ist auch von dieser Einstellung gezeichnet: Wir möchten nicht, wissen aber, dass wir wohl irgendwann müssen.

derStandard.at: Warum müssen wir?

Caroni: Aus demografischen Gründen. Die Migrationsentwicklung, die Gesellschaften, die sich durchmischen: Irgendwann ist es nur noch eine historische Absurdität, dass Ausländerinnen und Ausländer nicht in Bezug auf Politik mitbestimmen können, sondern nur in Bezug auf Kultur, Sport, was auch immer.

derStandard.at: Welche Folgen hat der Ausschluss von Nichtstaatsbürgern für die Betroffenen?

Caroni: Das ist natürlich ein Signal: Nehme ich einen Menschen als Person wahr, oder sage ich: Dieser Mensch ist hier, gehört aber nicht wirklich dazu. Das provoziert das Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Dieser Keil, der hier eingeführt wird, ist unter integrationspolitischen Aspekten aus meiner Sicht nicht wünschenswert.

derStandard.at: Mit welchen Argumenten verweigert man langansässigen Migranten das Wahlrecht?

Caroni: Man sagt: Wer wirklich schon lange hier ist, kann sich ja einbürgern lassen – dann gibt es keinen Ausschluss mehr. Dass man dafür die "alte" Staatsbürgerschaft aufgeben muss, zählt in dieser Argumentation nicht. Denn nach dieser Auffassung soll man sich möglichst nicht an zwei Gemeinwesen beteiligen können – das ist die Idee der Loyalität, die mit der Staatsbürgerschaft zum Ausdruck kommt.

derStandard.at: Gibt es aus rechtlicher Sicht einen sachlichen Grund, das Wahlrecht eng an die Staatsbürgerschaft zu knüpfen?

Caroni: Ich sage: nein. Wenn man sagt, jemand darf nur wählen, wenn er ein gewisses Alter erreicht hat, dann ist das ein sachlicher Grund: Ein zweijähriges Kind wird nicht mit Wahlen zurechtkommen, mit 16 Jahren ist das anders. Die Staatsangehörigkeit ist kein sachlicher Grund für einen Ausschluss: Wer in einem Gemeinwesen lebt, ist betroffen von Entscheidungen, die dort getroffen werden, möchte also in der Regel auch mitsprechen. Der Wohnsitz wäre also ein sachlicher Grund, nicht aber die Staatsbürgerschaft.

derStandard.at: Wohnsitze können sich sehr schnell ändern. Wie rasch soll das Wahlrecht dem Wohnsitz hinterherwandern?

Caroni: In der Schweiz gibt es je nach Gemeinde-, Kanton- und Bundesebene unterschiedliche Wartefristen. Das Maximum sind drei Monate – weil man davon ausgeht, dass die Möglichkeit, Informationen zum neuen Wohnort zu bekommen, einfacher geworden ist, man kann sie online 24 Stunden lang bekommen. Es sollte also eine relativ kurze Frist sein. De facto wurden in der Schweiz die meisten Wartefristen aber ohnehin abgeschafft.

derStandard.at: In der Schweiz gibt es in neun Kantonen ein Ausländerwahlrecht – ganz ohne Einschränkung?

Caroni: Es sind neun Kantone, das Spektrum ist unheimlich weit. Es gibt Kantone, die überhaupt keine Einschränkung haben: Wer seit zwei Jahren hier wohnt, ist wahlberechtigt auf allen Kantonsebenen und für alle Ämter – egal ob Nigerianer oder Deutsche. Andere sagen: nur für kommunale Wahlen und nur für die, die seit fünf Jahren hier leben oder einen bestimmte Aufenthaltstitel haben. Bundesweit wahlberechtigt sind überall nur Schweizer Staatsangehörige. Die Kantone sind aber immer eine Art Versuchslabor für Entwicklungen, die Jahrzehnte später auch auf Bundesebene eintreten.

derStandard.at: Was hat zum Schwenk in den neun Kantonen geführt?

Caroni: Zum Teil waren es politische Vorstöße, zum Teil auch pragmatische Gründe: In Appenzell hat man zum Beispiel gemerkt, dass sie zu wenige Schweizer haben, die bereit sind, sich an der Politik zu beteiligen. Man hat gesagt: Wir brauchen frische Gesichter für die Behörden – führen wir das Ausländerstimmrecht ein.

derStandard.at: In Österreich dominiert die Argumentation, man müsse sich Staatsbürgerschaft erst "verdienen", sie sei die Krone der Integration. Gibt es alternative Denkarten?

Caroni: Diese Ansicht gibt es auch in der Schweiz – allerdings ist das Erlangen der Staatsbürgerschaft für viele fast nicht möglich, die Hürden sind sehr hoch und sollen jetzt sogar erhöht werden. Man könnte doch sagen: Allein das Kundtun, dass man politisch mitbestimmen will, ist ein Zeichen, dass jemand voll integriert ist – man könnte das Wahlrecht auf die, die schon einige Zeit im Land leben, ausdehnen.

derStandard.at: Anders als das Ausländerstimmrecht wurde in Österreich die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre ohne erbitterte Widerstände eingeführt. Unterstellt man 16-Jährigen, loyaler mit dem Staat Österreich zu sein als Bürger anderer Staaten, die schon lange hier leben?

Caroni: Man nimmt an, wenn jemand den österreichischen Pass hat, dann ist diese Person per se am Gemeinwesen interessiert. Es wird völlig ausgeblendet, dass da noch andere Elemente hineinspielen. Auch in der Schweiz war die Senkung des Wahlalters in einem Kanton absolut kein Problem. Man sagt, diese Menschen sind per se durch den Pass loyal.

derStandard.at: Sehen Sie Parallelen zwischen der Diskussion über das Ausländerstimmrecht und der Debatte vor der Einführung des Frauenwahlrechts in der Schweiz 1971?

Caroni: Die Debatten sind vergleichbar. Beides hat Jahrzehnte gedauert, in beiden Fällen sind es nicht sachliche Argumente, sondern emotional-paternalistische Argumente, die verwendet werden. Es geht gar nicht darum, ob jemand interessiert ist mitzubestimmen. Man sagt einfach: "Frauen an den Herd" – oder eben heute: "Sollen sie sich halt einbürgern lassen." (Maria Sterkl, derStandard.at, 23.6.2014)