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Ich ziehe es vor, mich hinsichtlich Ihrer Zeitung auf die Rolle eines Lesers zu beschränken, der interessiert die schamlos profaschistischen Artikel Ihres römischen Korrespondenten, eine rechtsradikale Verteidigung des Carl-Schmitt'schen 'Imperativs der Homogenität' und die Reinwaschung des faschistischen Staatsphilosophen Gentile ... zur Kenntnis nimmt - die Auslese weniger Tage." - Das antwortet Jürgen Habermas der renommierten Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) im Jahr 1992 auf die Bitte, er möge doch fürs FAZ-Feuilleton schreiben.

Mit Samthandschuhen habe Jürgen Habermas seine Gegner nicht angefasst, konstatiert Stefan Müller-Doohm in seiner monumentalen Biografie, die er diese Woche pünktlich zum 85. Geburtstag des Philosophen vorgelegt hat. Aber Habermas musste auch ganz schön einstecken. In Müller-Doohms Chronik erscheint dieses lange Leben als eine heftige Debattenschlacht auf hohem Niveau. Da Habermas von früh an und kontinuierlich als öffentlicher Intellektueller agierte, wird hier anhand seines Lebenslaufs auch die Geschichte der Bundesrepublik erzählt.

1929 geboren, ist Habermas Teil der sogenannten "Flakhelfer-Generation" , deren Jugendsozialisation in die NS-Zeit fiel, die aber das Glück haben konnte, sich biografisch nicht zu tief zu verstricken und - wenn sie akademische Wege ging - im intellektuell leergefegten Nachkriegsdeutschland schnell Gestaltungsmöglichkeiten fand. Die Abgrenzung von der NS-Zeit und das Eingedenken deutscher Schuld deutet Müller-Doohm als zentrales Movens dieser Biografie.

Habermas studierte größtenteils an der - nach 1945 immer noch braunen - philosophischen Fakultät in Bonn, schlug sich eine Zeitlang als freier Journalist mit Rezensionen durch. Auf Vermittlung hin lernte Habermas Adorno kennen, wurde Assistent am berühmten Frankfurter Institut für Sozialforschung, gab diese Stellung zugunsten einer Professur in Heidelberg auf. Es folgte eine steile akademische Karriere bis hin zum mit unzähligen Preisen überhäuften "berühmtesten lebenden Philosophen der Welt", wie Donald Dworkin zutreffend waschzetteltauglich zum 80. Geburtstag von Habermas formulierte.

Müller-Doohm schildert den akademischen Werdegang immer verknüpft mit politischen Auseinandersetzungen, denn Theorie und Politik sind bei Habermas nicht voneinander zu trennen. Wesentlich dafür ist die systematische Rolle, die Sprache in seinem Werk spielt, und die Art von "Linkssein", die daraus folgt. Habermas hat sich im "Grand Hotel Abgrund" der alten Frankfurter Schule nicht einrichten wollen. Sprache ist auf Verständigung hin angelegt und hat darin ihren rationalen Kern, das ist Habermas' gute Nachricht. Diese "kommunikationstheoretische Wende" war zugleich eine Abkehr vom negativistisch-verfallsverliebten Geist der alten Frankfurter. Habermas setzt auf demokratische Auseinandersetzung, Verständigung im möglichst "herrschaftsfreien Diskurs", auf eine Selbstaufklärung der Vernunft im Medium der Sprache.

Die Überzeugung, dass es eine Rationalität der Sprache und der Verständigung gibt, macht Habermas nur zu einem gemäßigten, liberalen Linken. Daher musste er von links wie rechts Schläge einstecken. Dramatisch zeigte sich das während der 68er-Studentenrevolte. Habermas hatte, wofür er sich später entschuldigte, Rudi Dutschke "linken Faschismus" vorgeworfen, was ihn zeitweilig zur Persona non grata machte. Für Frankfurt war er zu rechts, in Bayern hielt man ihn für einen Neomarxisten und "Sturmvogel der Kulturrevolution" (Franz-Josef Strauß). Die feine, aber harte Linie verläuft zwischen linksliberal und liberalkonservativ. Mit den Liberalkonservativen lieferte sich Habermas zeitlebens die harten, hinreißend polemischen Gefechte.

Das große, reiche Denken von Habermas hat natürlich blinde Flecken. Für ihn war die Westbindung wesentlich, daher fehlt eine Auseinandersetzung mit der DDR, es fehlt der Osten, es fehlen Frauen als intellektuelle Akteurinnen. Nur eine einzige Habermas-Schülerin ist in der Biografie erwähnt - kein Zufall. Die alte wie die neue Frankfurter Schule ist eine Buberlpartie, ohne dass es ihr - oder dem Biografen - besonders auffiele. Müller-Doohm kennt seinen Stoff aus dem Effeff. Für dieses Buch hat er eine unglaubliche Menge an Materialien zusammengetragen, und wenn er auch mit manchen Details zu viel des Guten tut - "Ausflüge in die reizvolle Voralpenlandschaft stehen an Wochenenden auf der Tagesordnung" -, verwebt er doch die Beschreibungen der Entwicklung des Werks, der Universitätskarriere und des öffentlichen Wirkens geschickt, sodass es ein gut lesbares, homogenes Ganzes ergibt.

Diese Biografie führt vor, auf welch hohem Niveau gesellschaftliche Debatten stattfinden können, was auch der Ernsthaftigkeit von Habermas' Denken geschuldet ist. Denn im Kern geht es hier eben um nichts weniger als die Wahrheit. Andererseits, das muss man auch sagen, ist diese dicke Biografie mit all ihren Personalia eine sehr, sehr deutsche Geschichte. (Andrea Roedig, Album, DER STANDARD, 21./22.6.2014)