Wenn ich an Berlin denke, habe ich ein gespenstisches Bild im Kopf: das einer halb verfallenen Kirche, die gerade renoviert wird. Ich sehe mich mit den anderen beiden Musikern von Thirty Seconds to Mars, meinem Bruder Shannon und Tomo Milicevic, wie wir an einem Sonntagnachmittag vor zehn Jahren durch die Straßen von Mitte spazieren und plötzlich vor dieser Kirche stehen.

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Als Schauspieler wurde Jared Leto im Jahr 2000 durch seine Darstellung eines Heroinsüchtigen im Film "Requiem for a Dream" bekannt. 2014 erhielt er für die Rolle des Transsexuellen Rayon in "Dallas Buyers Club" den Oscar als bester Nebendarsteller. Seit 1998 ist er zudem Sänger und Gitarrist der Alternative- Rock-Band 30 Seconds to Mars.
Foto: Reuters/Lucy Nicholson

Drumherum ist alles eingezäunt, wir finden aber ein Loch und quetschen uns durch. Niemand sieht uns, niemand bewacht die Baustelle. Wir gehen in die Kirche hinein, es staubt überall, wo wir hintreten. Langsam bahnen wir uns einen Weg zum Altar, als wir dahinter durchsichtige Plastiksackerln entdecken. Dutzende liegen da, sie sind prallgefüllt, wir können aus der Ferne nicht erkennen, womit.

Es sind menschliche Überreste

Wir gehen näher - und kapieren es dann: Es sind menschliche Überreste. Ich sehe einen Schädel, Knochen, entdecke noch ein paar Knochen, die offensichtlich nicht mehr in die Sackerln hineingepasst haben und einfach auf dem Boden liegen. Gruselig!

Sofort stellen wir Spekulationen an. Was kann passiert sein? Waren das wirklich nur geöffnete Gräber, die für die Zeit der Restaurierung freigelegt wurden? Oder war das Dach der Kirche in früheren Zeiten eingestürzt und hatte diese Menschen unter sich begraben? Waren es Leute, die am Ende des Zweiten Weltkrieges in die Kirche geflüchtet waren, als ein Bombenangriff die Stadt erschütterte, und die den Angriff nicht überlebt hatten? Waren sie Verschüttete?

Stadt der Spekulationen

Die Stadt verführt zu solchen Spekulationen. Wir sind schließlich in Berlin. Jeder Amerikaner, der wie ich in den 1980er-Jahren ein Teenager war, mit Ronald Reagan als Präsidenten aufwuchs, hat von Berlin Bilder von Krieg und Verwüstung im Kopf.

Mit dieser Assoziation kam ich 2002 das erste Mal nach Berlin - und fand diese Kirche. Ich erinnere mich, als ich im Auto vom Flughafen ins Hotel fuhr, wie ich an vielen Wänden Graffiti entdeckte. In Amerika heißt das automatisch: Achtung, schlechtes Viertel! Ich fand das cool, mich kann so etwas nicht aus der Fassung bringen, ich bin in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, war aber immer von Künstlern umgeben. Und diese Reibung von Wirklichkeit und Kunst habe ich in Berlin sofort gespürt. So begann meine Liebe zu dieser Stadt.

Berlin hat sich stark verändert

Sie hat sich seit meinem ersten Aufenthalt stark verändert. Damals haben wir die Bars von außen kaum erkannt, heute sind sie offener, überall sitzen Menschen davor - und ich höre viel mehr Sprachen als noch vor zehn Jahren.

"Ich habe versucht, die Gegenwart zu verstehen und bin am Wochenende zum Biomarkt auf den Kollwitzplatz gegangen. Wie liebevoll alles präsentiert wird, als wären es kostbare Luxusgüter.
Foto: Visit Berlin

Was ich wirklich auffallend finde: In Mitte und Prenzlauer Berg sehe ich überall Kinder. Ich habe noch nie so viele Kinderwagen auf einem Fleck gesehen. Geben sie hier Viagra ins Trinkwasser? In Los Angeles höre ich kaum Kinder, ich sehe kaum welche, weil sich alles in den Häusern oder Autos abspielt. Das Kreischen der Kinder, das ist für mich der Klang Berlins - zusammen mit dem Schnurren der Straßenbahn in Prenzlauer Berg .

Sie lebten in Lofts! In den USA wären die ein Vermögen wert gewesen

Bei meiner ersten Ankunft haben mich einige der Straßenzüge an New York in den 1980er-Jahren erinnert. Unser Hotel lag in einer Straße, in der sich ein Künstlerhaus befand. Es war das Tacheles, für mich der ultimative Ausdruck für das Berlin jener Zeit: eine Kommune in einem heruntergekommenen neoklassizistischen Gebäude. Lebten alle Berliner so? Als ich das erste Mal Bekannte in ihrer Wohnung besuchte, wusste ich: Nein, sie lebten in Lofts! Wohnungen, die vergleichsweise wenig kosteten. In den USA wären sie ein Vermögen wert gewesen.

Muse für ein Album

Ein Geruch von Berlin steigt mir in die Nase: jener von verbranntem Holz. Das liegt daran, dass ich oft in der Vorweihnachtszeit hier war. Es ist nicht die schönste Zeit des Jahres, um vier Uhr am Nachmittag wird es dunkel, es ist kalt - aber ich kann mich einschließen und Lieder schreiben. Für unser Album This Is War sind einige in der Stadt entstanden. Hurricane zum Beispiel. Sie erzählen von einer Atmosphäre, zu der mich Berlin inspiriert. Wie eine Muse kann das auch eine Stadt leisten, ohne dass ich das Lied deshalb "Alexanderplatz" nennen muss.

So oft bin ich in Berlin gewesen, dass ich aufgehört habe, meine Aufenthalte zu zählen. In den Studios von Potsdam-Babelsberg habe ich mit Diane Kruger Mr. Nobody gedreht, ich bin mit meiner Band in großen Arenen aufgetreten und habe mir andere Musiker angesehen. Mal waren es kleine Konzerte im White Trash an der Schönhauser Allee, von Bands, deren Namen ich wieder vergessen habe, mal war es ein Auftritt von Björk oder Arcade Fire.

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"Nachts gefällt es mir, durch Berlin zu joggen. Am liebsten am Flussufer der Spree über die Museumsinsel, da ist es so ruhig. Die Kulisse ist filmreif - und für eine Metropole ziemlich dunkel. Das ist ein wenig gespenstisch - wie das erste Mal in Berlin."

Ich lerne mehr, wenn ich die Straßen in Mitte entlanggehe

Vor ein paar Jahren habe ich ein paar Tage Urlaub in Berlin gemacht und im Hotel Lux 11 in der Rosa-Luxemburg-Straße ein Appartement gemietet. Ich entdeckte damals das Restaurant Monsieur Vuong, und versuche seitdem jedes Mal hinzugehen, wenn ich in Berlin bin. Ich habe mir die großen Museen auf der Museumsinsel angesehen, zeitgenössische Kunst im Hamburger Bahnhof und in den Galerien der Auguststraße und das Deutsche Historische Museum Unter den Linden besucht, hatte jedoch das Gefühl, ich lerne mehr, wenn ich die Straßen in Mitte entlanggehe.

Ich sah die alten Gemäuer, in denen Granatsplitter aus dem Zweiten Weltkrieg Löcher hinterlassen hatten. Ich habe mir das Denkmal auf dem Bebelplatz angesehen, das an die Bücherverbrennung erinnert. Dieses Loch im Boden, in das man durch eine Glasplatte hineinschaut, ich finde, das ist eine wunderbare Lösung, um dieser schrecklichen Ereignisse zu gedenken.

Es gab keine Schranken wie in den USA

Ich habe versucht, die Gegenwart zu verstehen und bin am Wochenende zum Biomarkt auf den Kollwitzplatz gegangen. Wie liebevoll alles präsentiert wird, als wären es kostbare Luxusgüter. Ich bin mit der U-Bahn gefahren, um die Stadt zu erkunden. Am Anfang habe ich überhaupt nicht kapiert, dass ich bezahlen muss. Es gab keine Schranken wie in den USA. Ohne es zu wissen, bin ich schwarzgefahren.

Ein anderes Mal wollte ich eine echte Berliner Erfahrung machen und habe mir auf dem Flohmarkt im Mauerpark ein Rad gekauft, eine blöde Idee, denn es war November und begann zu schneien. Ein paar Straßen vom Park entfernt ging das Rad kaputt. Sofort bin ich zurück, um den Verkäufer zu finden, aber er war natürlich längst weg.

Die Kulisse ist filmreif

Nachts gefällt es mir, durch Berlin zu joggen. Am liebsten am Flussufer der Spree über die Museumsinsel, da ist es so ruhig. Die Kulisse ist filmreif - und für eine Metropole ziemlich dunkel. Das ist ein wenig gespenstisch - wie das erste Mal in Berlin. (Aufgezeichnet von Ulf Lippitz, Rondo, DER STANDARD, 27.6.2014)