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Erdogan vor Anhängern in Wien

Foto: APA/Hans Punz

Ein satiremagazin zeigt CHP-parteichef Kilicdaroglu.

Jetzt wirklich und in echt: 1. Juli. Am 1. Juli wird die türkische Regierungspartei AKP sagen, wer ihr Kandidat für das Präsidentenamt ist. Tayyip Erdogan? Also, das könnte schon sein. Eigentlich ist auch niemandem je ein anderer Name eingefallen. Erst recht nicht, seit der biegsam-freundliche Abdullah Gül seinem politischen Weggefährten Platz gemacht und auf eine Kandidatur für eine zweite Amtszeit verzichtet hat.

Ehefrau Emine, die sich zur Äußerung einer gegenteiligen Meinung hinreißen ließ, findet die Wahl Tayyips zum Staatschef nun absolut richtig. Das türkische Erdogan-Wahlvolk in Wien, Köln und Paris ist vom Premier persönlich auch schon in Fahrt gebracht worden. Stellt sich die Frage, was der Noch-Regierungschef so lange hin- und herwägen muss, dass er die Ankündigung seiner Kandidatur immer wieder verschoben hat. Intensive basisdemokratische Debatten in der Partei, dramatischer Effekt, nagende Selbstzweifel?

Einige Ereignisse haben Erdogans Regie in den vergangenen Wochen etwas durcheinander gebracht. Erst war das Grubenunglück in Soma mit mehr als 300 Toten und einem misslungenen Auftritt des Premiers in der Minenstadt. Dann folgte der Ausbruch der Irakkrise mit dem Vormarsch der Sunni-Terrorgruppe ISIS und der Massenentführung im türkischen Konsulat in Mosul. Dann kamen zur selben Zeit die Oppositionsparteien CHP und MHP – die Sozialdemokraten-Nationalisten und die Rechtsnationalisten – und präsentierten ihren gemeinsamen Überraschungskandidaten Ekmeleddin Ihsanoglu, den „Dach-Kandidaten“, wie ihn die türkischen Politiker tauften, weil er unter dem Dach zweier Parteien und derer Wähler antritt.

Der Vorname Ekmeleddin des in der Türkei eher unbekannten religiös-konservativen langjährigen Generalsekretärs der Organisation für Islamische Zusammenarbeit OIC ist allerdings so kompliziert für die beiden Parteichefs, dass sie regelmäßig Fehler machen, wenn sie ihren Kandidaten nennen. Das Satiremagazin Uykusuz zeigt deshalb dieser Tage auf seiner Titelseite den CHP-Vorsitzenden Kemal Kiliçdaroglu, der seinen Zuhörern erklärt: „Je mehr Sie ihn kennen, um so mehr werden Sie unseren Dach-Kandidaten Ziegelittin lieben!“ (kiremit – Dachziegel)

Erdogan und seine AKP jedenfalls müssen den Antritt von Ihsanoglu, der 2004 von derselben konservativ-islamischen Regierung als erster Türke auf den Chefposten der IOC empfohlen wurde, erst einmal verarbeiten. Der 71-jährige Ihsanoglu ist ein Vertreter des politischen Islam wie Erdogan, was die Unterschiede zu dem rabiaten Premier nur deutlicher hervortreten lässt: Ihsanoglu gilt als leise, tolerant, weltoffen. Eine Kandidatenerklärung Erdogans schien deshalb nicht opportun. Aber es gibt wohl noch wichtigere Gründe, warum die Entscheidung über die Präsidentenfrage hinausgezögert wird.

Das Gespenst, das über der AKP hängt, ist Turgut Özal und dessen konservative Mutterlandspartei Anap. Als Özal nach sieben Jahren als Regierungschef 1989 zum Staatspräsidenten gewählt wurde, ging es mit seiner Partei stetig abwärts. Das könnte auch der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) drohen. Erdogan will im August Präsident werden und dann in der Praxis auch gleich die Regierung mitführen, deren Kabinettssitzungen – so kündigte er schon an – leiten wird. Erwartet wird die Berufung eines ihm ergebenen Premiers. Außenminister Ahmet Davutoglu oder Emrullah Işler, Jus-Professor und seit 2011 einer der stellvertretenden Regierungschefs, gelten als die möglichen Nachfolger; Der frühere Saadet-Parteichef und jetzige AKP-Funktionär Numan Kurtulmuşkönnte später, nach den Parlamentswahlen im Juni 2015 mit einem Mandat ausgestattet, den Posten übernehmen. Doch einmal weg von der Regierung, könnte alles auch anders laufen für Erdogan und die AKP. Garantien, dass sich der Premier stets fügt und die Partei nicht zerstreitet, in Serie Misserfolge produziert oder spaltet in einen moderaten Flügel und einen, der Erdogan folgt, gibt es nicht.

Und ungelöst ist weiterhin die Frage der rund 70 AKP-Abgeordneten – Minister mit Abgeordnetenmandaten eingeschlossen –, die laut Statut der AKP nach drei Amtszeiten pausieren müssen. Die rechte kemalistische Tageszeitung Sözcü hat mit wohl einiger Schadenfreude eine Galerie dieser Zwangsabgänger in Umlauf gebracht. Nur wenige von ihnen konnten nach den Kommunalwahlen im März mit Bürgermeisterposten versorgt werden. Ein Teil wird innerhalb der Partei oder in Erdogans Präsidentenpalast ein Auskommen als Berater finden.

Doch das Loch, das die 70 in die Personaldecke von Parlamentsfraktion und Regierung reißen und damit in Erdogans Machtapparat, ist enorm: Justizminister Bekir Bozdag ist dabei, Wirtschaftsminister Ali Babacan, Vizepremier und Parteimitgründer Bülent Arinc, Parteisprecher Hüseyin Celik oder Energieminister Taner Yildiz. Tayyip Erdogan will als Staatschef die Türkei weitere zehn Jahre regieren – mit einer weitgehend neuen, unerfahrenen Mannschaft in einer neuen, noch nicht erprobten Machtkonstellation. Genug Gründe, um mit der Bekanntgabe der Präsidentenkandidatur zu warten und das eigene Lager zu ordnen ... (Markus Bernath, derStandard.at, 25.6.2014)