Wien/Innsbruck - Nein, der Mann war nicht waghalsig. Keine Abenteuerlust trieb den Deutschen Johann Westhauser in das Innerste der Riesending-Höhle im Berchtesgadener Land, sondern Wissensdrang. Nach seiner spektakulären Rettung ist der verunglückte Forscher auf dem Weg der Besserung. Wie er auch wagen sich viele Gelehrte immer wieder in unwegsame Tiefen. Der Untergrund birgt noch immer viele Geheimnisse.
Ein besonders mysteriöses Phänomen trägt den Namen Bergmilch und tritt in vielen Höhlen rund um den Globus auf. Vor allem in Karstregionen. Das meist schneeweiße Gemisch, oft auch Mondmilch genannt, besteht zu 40 bis zu mehr als 90 Prozent aus Wasser mit darin suspendierten Calcitkristallen. "Es ist keine Flüssigkeit, sondern eher wie Zahnpaste" , erklärt Christoph Reitschuler von der Universität Innsbruck.
Dass sich der Mikrobiologe intensiv mit der Erforschung von Bergmilch befasst, hat einen guten Grund: Die Masse ist normalerweise überaus belebt. Zahlreiche Bakterien tummeln sich darin, ebenso wie Pilze und sogenannte Archaea - Mikroorganismen, deren Vorfahren wohl die ersten Lebensformen auf unserem Planeten waren. Die Entstehung dieser vielfältigen Lebensgemeinschaften bereitet Wissenschaftern Kopfzerbrechen. Woher stammen die Kleinstkreaturen, und wovon ernähren sie sich im kargen, finsteren Hades?
Zur Klärung dieser Fragen hat Reitschuler gemeinsam mit einigen Kollegen Bergmilchproben aus der berühmten Tiroler Hundalm-Höhle molekulargenetisch und mikrobiologisch analysiert. Die Ergebnisse zeigen die Anwesenheit von zum Teil mehr als einer Million Einzeller pro Milliliter Bergmilch auf. Unter ihnen finden sich sowohl aerobe wie auch anaerobe Arten. Erstere benötigen Sauerstoff und kommen in den oberflächennahen Schichten von Bergmilchablagerungen vor. Das ist an sich wenig überraschend, doch interessanterweise leben die aeroben Mikroorganismen offenbar in unmittelbarer Nachbarschaft zu den anaeroben Formen, für die Sauerstoff meist toxisch ist.
Komplexe Ökosysteme
Diese Nähe ist wohl kein Zufall. "Aerobe können anaerobe Organismen einkapseln und so vom Sauerstoff abschirmen", erläutert Reitschuler. Dabei entstehen komplexe Ökosysteme im mikroskopischen Format, wie zum Beispiel die Biofilme auf Steinen in Bächen. In Bergmilch dürften sich ähnliche Gemeinschaften bilden. Seine detaillierten Studienberichte hat das Team in den Fachmagazinen "Die Höhle" und "Anaerobe" veröffentlicht.
Das Zusammenwirken unterschiedlicher Spezies könnte vielleicht auch die erstaunlich hohen Zelldichten erklären. Möglicherweise enthält Bergmilch bisher unbekannte autotrophe Mikroorganismen, die ihren Energiebedarf über spezielle chemische Reaktionen decken und somit nicht von organischen Nährstoffen abhängig sind. Letztere sind in den Höhlen schließlich Mangelware.
Die vermuteten Autotrophen würden demnach die Nahrungsgrundlage für alle anderen Bergmilchbewohner produzieren. Ihre Rolle wäre vergleichbar mit jener der Grünpflanzen an der Erdoberfläche. Es ist denkbar, dass solche Einzeller gelöstes Kohlendioxid und Calcium mithilfe von Enzymen zu Calcit binden und die dabei freiwerdende Energie nutzen, sagt Reitschuler.
In diesem Fall wäre Bergmilch nicht bloß von Mikroorganismen besiedelt, sondern das Produkt ihrer biologischen Aktivität. Nachgewiesen ist dies allerdings noch lange nicht. Zurzeit versuchen die Innsbrucker Experten, verschiedene Bakterien- und Archaea-Arten aus der Hundalm-Höhle in Laborkulturen zu vermehren und sie genauer zu identifizieren. Auffällig häufig sind die bis dato nicht näher beschriebenen Euryarchaeota. Deren Stoffwechsel ist noch gänzlich unbekannt, wie Reitschuler betont.
Laien bekommen Bergmilch nur selten zu Gesicht. In touristisch erschlossenen Grotten schauen sie sich eher Tropfsteinformationen oder Höhleneis an. Die oft mehrere Meter mächtigen Eisablagerungen sind ein Forschungsgebiet des Geowissenschafters Rudolf Pavuza vom Naturhistorischen Museum Wien.
Das Alter solcher Gebilde ist äußerst schwierig festzustellen, erklärt Pavuza. Manchmal werden in bestimmten Eisschichten Holz- oder Knochenreste gefunden. Ein Glücksfall, denn an solchem organischem Material lassen sich gut Altersbestimmungen nach der bekannten Radiocarbonmethode durchführen.
Aufwändige Eisdatierung
Eine weitere Möglichkeit ist die Messung der Tritium-Aktivität. Dieses radioaktive Wasserstoffisotop kommt in winzigen Mengen in Oberflächenwasser vor und hat eine Halbwertszeit von 12,3 Jahren. Dementsprechend ist in unterirdischem Eis nach spätestens 60 Jahren kein Tritium mehr nachweisbar, der Ansatz ermöglicht somit lediglich die Datierung von jüngeren Ablagerungen. Für altes Höhleneis müssen andere, aufwändigere Verfahren zum Einsatz kommen. Mit unsicheren Erfolgsaussichten.
Pavuza und vier ungarische Forscher haben das Eis in der Saarhalle, einem Teil des Mammuthöhlensystems im Dachstein-Gebirge, mit verschiedenen Methoden unter die Lupe genommen. Eine komplizierte Angelegenheit. Die Forscher entnahmen einen mehr als fünf Meter langen Bohrkern und analysierten diesen praktisch scheibchenweise.
Die Tritium-Aktivität wurde gemessen, ebenso wie die elektrische Leitfähigkeit des Schmelzwassers und die Konzentrationen stabiler Sauerstoffisotope. Die Ergebnisse bestätigten unter anderem die Beobachtung, dass das Saarhallen-Höhleneis spätestens ab 1996 stetig an Umfang verloren hat. Den Tritium-Daten zufolge ist das derzeit oben aufliegende Eis sogar älter als 60 Jahre. Mit anderen Worten: Die Eismasse schrumpft vermutlich schon seit Jahrzehnten, wie die Forscher in "The Cryosphere" berichteten.
Pavuza warnt aber davor, den Schwund kategorisch als Folge des Klimawandels einzustufen. "Eine Höhle reagiert sehr stark verzögert", betont der Fachmann. Abgesehen davon wird die Mächtigkeit von Eisablagerungen nicht nur von Schmelzprozessen, sondern auch von der Eisneubildung bestimmt. Den Analysen nach erfolgte die in der Mammuthöhle im Frühling, wenn Wasser aus der Schneeschmelze von draußen in die Grotte einsickerte und dort auf im Winter stark abgekühlten Eis- oder Felsoberflächen gefror. Nun aber ist der Eisnachschub offenbar seit einigen Dekaden unterbrochen. Das ist vermutlich eine Folge veränderter "Wasserwege", sagt Pavuza. Das Schneeschmelzwasser rinnt woanders hin, womöglich durch Erdbewegungen umgeleitet. Ein natürlicher Prozess, der sich auch in anderen Höhlensystemen immer wieder beobachten lasse.
Dennoch: Das Außenklima übt früher oder später auch in den tiefsten Grotten seinen Einfluss aus. Die ältesten Höhleneisbestände sind hierzulande maximal fünftausend Jahre alt, berichtet Pavuza. "Nach der letzten Eiszeit war es doch immer mal wieder so warm, dass fast das ganze Eis aus den Höhlen verschwunden ist." (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 25.6.2014)