Wegen eines Mückenstichs ins AKH? Das hält die Ärztin und Ökonomin Judit Simon für eine "Verschwendung von Ressourcen".

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STANDARD: In Ihrer Antrittsvorlesung haben Sie Einstein zitiert mit den Worten: "Wenn man etwas nicht einfach erklären kann, hat man es nicht verstanden." Wie würden Sie die Herausforderungen in Ihrem neuen Job erklären?

Simon: Gesundheitsökonomie ist in Österreich eine relativ neue Disziplin. Um forschen zu können, braucht man fundierte Daten über Kosten, Ressourcen, Ergebnisse. Es gibt diese Daten zwar, aber sie werden nicht systematisch gesammelt, weil das Gesundheitssystem fragmentiert ist. Mehr Transparenz würde hier helfen, interdisziplinär zu forschen.

STANDARD: Das Institut ist an der Med-Uni Wien angesiedelt, dadurch ergibt sich nicht nur ein rein wirtschaftlicher Zugang.

Simon: Ich bin selbst auch Ärztin und Wirtschaftswissenschafterin. Es ist wichtig, beide Seiten zu verstehen - beispielsweise, ob die Frage nach Kosteneffektivität Klinikärzten helfen kann, ihre Arbeit zu organisieren.

STANDARD: Das Konzept für Primary Health Care zur Verbesserung der Grundversorgung wird gerade verhandelt.

Simon: Ja, aber das ist leider erst im Planungsstadium. Man müsste im Gesundheitswesen stärker auf allgemeine Vorsorge fokussieren und auch den Lebensstil stärker in den Mittelpunkt rücken. Es wird allerdings notwendig sein, vor einer Systemumstellung auch die Ausbildung des medizinischen Personals zu reformieren.

STANDARD: Sie haben zuvor in Großbritannien gelebt. Waren Sie überrascht, dass hier das Rauchen in Lokalen erlaubt ist?

Simon: Sehr, der Unterschied zu England ist unglaublich. Meinem achtjährigen Sohn ist es noch vor mir aufgefallen. Nach einer Woche hat er mich gefragt: "Warum rauchen hier alle Menschen?"

STANDARD: Kann man die Bevölkerung zu einem gesünderen Lebensstil erziehen?

Simon: Kinder ja. Deshalb ist es so wichtig, Gesundheitserziehung bereits im Kindesalter zu beginnen und auszubauen. Bei Erwachsenen wirken Belohnungssysteme besser.

STANDARD: In Österreich fließen etwa elf Prozent des BIP in Gesundheitsausgaben. Aus internationalen Untersuchungen geht hervor, dass es kaum einen Zusammenhang zwischen Geldmitteln und Resultaten gibt. Wieso?

Simon: Es gibt einen Zusammenhang, aber der ist nicht so groß wie gedacht. Gesundheit hängt weniger davon ab, wie viel ausgegeben wird, sondern davon, wie diese Mittel eingesetzt werden. Und natürlich gibt es auch den Einfluss von genetischen Komponenten, Lebensstil und -umfeld.

STANDARD: Woran lässt sich dies ablesen?

Simon: An der Lebenserwartung. Ein gutes Beispiel sind die USA. Dort werden 18 Prozent des BIP in Gesundheitsausgaben investiert, aber die durchschnittliche Lebenserwartung ist nicht besonders hoch. Ein großer Teil des Geldes kommt einem kleinen Teil der Gesellschaft zugute. In Österreich ist es durch die Sozialversicherungen so organisiert, dass jedem medizinische Versorgung zusteht. Trotzdem gibt es Unterschiede, wie sehr die Menschen durch Vorsorgeprogramme erreicht oder über Behandlungsoptionen informiert werden. Außerdem haben viele eine Privatversicherung. Gesundheit hängt also nicht nur damit zusammen, wie viel Geld man ausgibt, sondern auch damit, ob es effizient und gerecht verteilt wird.

STANDARD: Sie haben die extreme Fragmentierung des Gesundheitssystems bereits angesprochen. Wo müsste man da ansetzen?

Simon: Ich plädiere nicht für eine völlige Zentralisierung. Ich vermisse eine Verbindung zwischen den verschiedenen Ebenen der Versorgung. Wir benötigen einen verbesserten Informationsaustausch zwischen dem Hausarzt, dem privaten Spezialisten, den Krankenhäusern. Ärzte, die ein und denselben Patienten behandeln, wissen nicht, was der jeweils andere macht. Wenn der Informationsfluss besser wäre, würde das allein schon die Versorgung verbessern.

STANDARD: Etwa mit der Elektronischen Gesundheitsakte?

Simon: Ja, mit einer gut strukturierten und sinnvoll präsentierten Sammlung wichtiger Patientendaten, die aus allen Ebenen der Versorgung abgerufen werden können, könnte man die Zeit für die Behandlung der Patienten statt für eine lange Anamnese nützen.

STANDARD: Der Hausarzt hat beispielsweise in Großbritannien eine ganz andere Rolle als in Österreich. Dort ist jeder Bürger bei einem Arzt registriert, der dann als Gatekeeper für das Gesundheitswesen fungiert. Ist das aus Ihrer Sicht sinnvoll?

Simon: Ich denke, Österreich sollte sich definitiv in diese Richtung bewegen. Derzeit kann ich mit einem Mückenstich ins AKH gehen. Das ist eine Verschwendung von Ressourcen. Es braucht ein niederschwellig erreichbares Versorgungsteam, das die Patienten durch das System leiten kann - egal ob es ein einfaches Problem ist oder ob man einen Spezialisten braucht. Ein gewisses Maß an Gatekeeping sollte eingeführt werden. Aus Kostensicht, aber vor allem aus Sicht der Patientenversorgung. Das bedeutet aber auch, dass sich die Ausbildung der Hausärzte völlig verändern müsste. Es ist nicht unmöglich. Man müsste einfach das System reformieren.

STANDARD: Müsste sich auch die Rolle von Pflegern verändern?

Simon: Ja, es geht um Teamwork. Zusammenarbeit von Ärzten, Pflegekräften und anderen Gesundheitsberufen, aber auch von Sozialarbeitern. Es geht nicht nur um Behandlung, sondern um Zuwendung, auch im sozialen Sinn. Ein Kollege von mir an der Uni hat es deutlich ausgedrückt: Es geht nicht darum, die freie Arztwahl zu beschränken. Es geht darum, die Eingangsschwellen zur Versorgung zu verändern - dass man nicht ins AKH gehen kann mit einem Schnupfen, nur weil es praktisch ist.

STANDARD: Es gab bereits den Versuch, Patienten mit einer Ambulanzgebühr zu dirigieren. Diese wurde dann vom Verfassungsgerichtshof gekippt. Halten Sie eine finanzielle Hürde für sinnvoll?

Simon: Eigentlich ist es einfach: Man könnte sagen, ein Patient kann nur dann ins AKH kommen, wenn es sich um einen Notfall handelt - oder wenn er von einem Arzt überwiesen wurde. Es muss nicht das Geld sein, aber Selbstbehalte sind eine Möglichkeit. Das ist ein guter Anreiz. Es ist international bewiesen, dass Selbstbehalte funktionieren, wenn sie eingeführt werden. Man kann sich überlegen, wie hoch sie sein sollen oder ob man sie immer zahlen muss oder nur in Spezialfällen. Da muss man sich das Gesamtsystem ansehen.

STANDARD: Als Sie sich eingearbeitet haben in das österreichische Gesundheitssystem - was hat Sie am meisten überrascht?

Simon: Die Fragmentierung ist nahezu unglaublich. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Patienten in dem System nicht völlig verloren sind.

STANDARD: Fühlen Sie sich als Patientin verloren?

Simon: Ich war überrascht über das Ausmaß der Bürokratie. Eine E-Card für mich und meine Kinder zu bekommen hat wirklich lange gedauert. Wenn man hier nicht aufgewachsen ist, ist es recht schwierig, sich zu orientieren. (Marie-Theres Egyed, Andrea Heigl, DER STANDARD, 26.6.2014)