"Die Texte drücken sehr oft Zweifel und Verzweifeln an der momentanen Existenz aus. Dieser ganze pubertäre Wahnsinn fließt sehr stark in die Texte ein", sagt Schriftsteller Christoph Braendle.

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derStandard.at: Wie schwer ist es heute, Jugendliche für literarisches Schreiben zu begeistern?

Christoph Braendle: Schreiben war und ist immer ein Minderheitenprogramm. Es gibt Kids, die schreiben sehr gerne, und andere, die kriegen den Horror, wenn sie nur daran denken. Interessant ist, dass wir mit dem Wettbewerb viel leichter an Mädchen als an Burschen heran kommen. Im vergangenen Jahr kamen 130 der 150 Einsendungen von Mädchen. Unter den zehn Finalisten war dann kein einziger Bursche.

derStandard.at: Warum ist das so?

Braendle: Ich weiß es nicht. Im Jahr 2012 war das Verhältnis Mädchen zu Burschen noch relativ ausgeglichen. Viel hängt davon ab, ob es den Lehrerinnen und Lehrer gelingt, die Jugendlichen zu motivieren. Die Schülerinnen und Schüler haben enorm viel Unterrichtsstoff in der Oberstufe, dazu den Lernstoff. Dann sollen sie sich noch in der Freizeit hinsetzen und schreiben? Da braucht es schon einen Push. Sicher ist das auch eine Gendergeschichte, Mädchen tun sich vielleicht leichter in der Kommunikation. Aber trotzdem muss man mit Verallgemeinerungen sehr aufpassen.

derStandard.at: Der Bewerb richtet sich an Jugendliche von 14 bis 20 Jahren. Wenn nun die Lehrer entscheidend sind, was heißt das für Kinder mit Pflichtschulabschluss? Wie erreichen Sie die?

Braendle: Wir wollen heuer das erste Mal die Berufsschulen. Ich denke aber, dass es zu einem großen Teil ein außerschulisches Projekt vor allem der Gymnasiasten ist.

derStandard.at: Erheben Sie die soziale Herkunft der Jugendlichen?

Braendle: Nein. Es ist aber eine wissenschaftliche Begleitung durch das Wiener Germanistik-Institut in Vorbereitung. Ich vermute, ohne das belegen zu können, dass das Umfeld eine Rolle spielt, ein bildungsbürgerlicher Hintergrund ist sicher förderlich für die Teilnahme.

derStandard.at: Schreiben Jugendliche heute mehr als früher?

Braendle: Haben Sie schon einmal von Fan Fiction gehört? Da nimmt man das Personal des Lieblingsbuches und schreibt mit ihm neue Geschichten oder setzt beim bestehenden Buch fort. Harry Potter zum Beispiel. Auf der englischsprachigen Homepage  von Fan Fiction gibt es 64.000 Autoren, die Potter weiterentwickeln. Das ist eine Riesensache – und die Erwachsenenwelt weiß nichts davon. Meine 13-jährige Tochter hat mehr als 4.000 Leser ihrer Geschichten. Sie hat mehr Leser als ich!

derStandard.at: Die Altersspanne von 14 bis 20 Jahren ist groß gewählt - während dieser Zeit findet bei Jugendlichen viel Identitätsbildung statt. Wie lassen sich so unterschiedliche Texte "bewerten"?

Braendle: Es stimmt, dass 20-Jährige ganz anders schreiben als 14-Jährige. Aber sie schreiben nicht besser. Die Beurteilung läuft auch völlig anonym. Bemerkenswert ist, wie viele Jugendliche gut schreiben, und dass es in den Texten kaum Experimente  mit Sprache gibt, das meiste ist sehr narrativ.

derStandard.at: Trauen sich die Jugendlichen das nicht?

Braendle: Vielleicht ist im Moment nicht die Zeit dafür. In dem Jahr, als das Wettbewerbsthema "Utopia" war, gab es sehr viele Texte, die von Zukunftsängsten geprägt waren. Es gab eine erschreckend hohe Anzahl, wo ich nicht sicher war, ob das schon ein Hilfeschrei oder noch Literatur ist. Die Texte drücken sehr oft Zweifel und Verzweifeln an der momentanen Existenz aus. Dieser ganze pubertäre Wahnsinn fließt sehr stark in die Texte ein.

derStandard.at: Verstärkt sich das durch die wirtschaftliche Krise oder war das schon immer so: dass es existenzialistisch wird, wenn Jugend schreibt?

Braendle: Ich glaube, dass es immer so war. Im Leiden steckt eine kreative Kraft, wenn es einem gut geht, muss man nicht unbedingt schreiben. Das Schreiben ist sicher ein Ort des Rückzugs - das machen eher nicht die Glücklichen.

derStandard.at: Lässt sich verallgemeinern, was einen guten Text ausmacht?

Braendle: Ein guter Text kann vermitteln, dass das, was da steht, originär ist. Dass es eine Verwurzelung in einem selbst hat. Ich mag keine Texte, die sprachlich aufgeblasen sind.

derStandard.at: Sie lesen seit vielen Jahren, was Jugendliche schreiben. Ändert sich deren Sprache?

Braendle: Nicht erkennbar. Ganz wenige Texte nehmen die Email-Sprache auf, aber auch das sehr gemäßigt. Es ist eine gut formulierte Mainstreamsprache.

derStandard.at: Merken Sie, wenn Erwachsene beim Text mitgeschrieben haben?

Braendle: Ich habe das Gefühl, die Kids wollen das nicht. Aus den eingereichten Texten werden heuer ja 25 in die nächste Runde gelangen und in Workshops mit Schriftstellern arbeiten. Sie bleiben doch recht selbstständig mit ihren Texten. Oft fehlen Spannungsbögen, Themen werden nur angerissen und verlieren sich. Es geht eher darum, Tipps aus dem Handwerk des Schriftstellers zu geben.

derStandard.at: Gibt es ein Ziel, das Sie erreichen wollen?

Braendle: Mein Hauptanliegen ist, dass junge Leuten für das, was sie begeistert, Respekt erfahren. Und sei es nur im Moment.  Im ersten Jahr habe ich ein Experiment gemacht: Die Jugendlichen haben einen Text zum Thema  Kaffeehaus geschrieben. Bei der Präsentation haben Schauspieler ihre Texte gelesen, die Jugendlichen wiederum haben Beispiele der großen Kaffeehausliteraten vorgelesen. Das Publikum war verwirrt, es wusste auf einmal nicht mehr: Was ist Literatur und was nicht? Tatsache ist: In unserem Kulturbetrieb ist es so, dass die großen Stars von den großen Stars gelesen werden. Der Anfänger muss selbst. Dadurch entsteht der Eindruck einer riesigen Differenz. Die es in Wirklichkeit gar nicht gibt.

derStandard.at: Heißt das, jeder kann schreiben?

Braendle: Das würde ich nicht sagen. Aber viele. Schauen Sie sich den Erwachsenenliteraturbetrieb an: Wie viele Bücher kommen jährlich zur Frankfurter Buchmesse heraus? 60.000? Wie viele Titel hat eine Buchhandlung? 15.000? Dann heißt es: Das ist jetzt das beste Buch des Jahres! Nur, das stimmt ja nicht, weil 99 Prozent der Bücher gar nicht gelesen werden konnten, die neu am Markt sind.

derStandard.at: Wie dämpfen Sie die Enttäuschung bei Jugendlichen, wenn deren Texte beim Wettbewerb ausscheiden? Da steckt ja viel Persönliches drin.

Braendle: Ich schreibe jedem, der im Bewerb nicht weiter kommt. Ich weiß aus eigener Berufserfahrung, wie verletzend das sein kann. Ich versuche das aufzufangen. Ob es immer gelingt, weiß ich nicht. Mit den Schülern und Schülerinnen habe ich übrigens weniger Probleme. Manche Mütter sind da ganz anders: Wenn ihr Kind ausgeschieden ist, können sie sehr hartnäckig sein.

derStandard.at: Machen die Schulen genug, wenn es um Leseförderung und das Wecken des Interesses an Literatur geht?

Braendle: Es gibt Malkurse, Musikschulen und Sportunterricht. Für alle Beschäftigungsarten dieser Welt finden sich Angebote in den Schulen. Fürs Schreiben gibt es fast nichts. Da scheint noch immer dieses romantische Bild durch, dem Schriftsteller falle das Talent irgendwie zu, das könne man nicht lernen. Dieser kontinentaleuropäische Geniegedanke wirkt bis heute nach. In der neuen Zentralmatura hat das kreative Schreiben überhaupt keinen Platz mehr. Es geht um Formen, die gelernt gehören. Das ist schlimm. Es ist wichtig, dass das freie Schreiben gefördert und gepflegt wird. Es gibt auch keine Lobby dafür. Sagt das Kind, es will Flöte lernen, geben die Eltern dafür Geld aus. Sagt das Kind, es will schreiben, braucht es schon sehr geneigte Eltern. (Peter Mayr, Lisa Mayr, derStandard.at, 27.6.2014)