Salzburg - Der greise Leo will nicht ins Altersheim. Sein hektischer Sohn, der die Lebensmitte auch schon deutlich überschritten hat, schleift ihn buchstäblich hinein. Von diesem Moment an ist nicht mehr wirklich zu unterscheiden, was sich tatsächlich ereignet und was sich im Kopf des neuen Insassen abspielt. Klar wird nur: Mit Vader, der jüngsten Theater-Tanz-Produktion der belgischen Gruppe Peeping Tom in der Regie von Franck Chartier, hatte das Festival Sommerszene Salzburg einen so gelungenen wie unheimlichen Auftakt.

Alles spielt sich im Aufenthaltsraum des Heims ab, der mit einer kleinen Bühne ausgestattet ist. An zwei Tischen sitzen einige Heimbewohner. Leo bekommt Hühnersuppe, daraufhin beginnt ein Grüppchen in seiner Nähe zu gackern. Eine junge, bildschöne portugiesische Sängerin gibt einen Fado zum Besten. Dann kapert sie einen Rollstuhl und verwandelt sich binnen weniger Minuten in eine Greisin, der Leo bis zur Erschöpfung hinterherhechelt.

Ja, er war einmal ein Schwerenöter. Und konnte Klavier spielen. An den Tasten lebt Leo auf. Feelings singt er, frei nach dem Oldie von Morris Albert: "Feelings of love". Und ein wenig später: "I wish I'd never lived that long." Denn mit der Liebe ist es vorbei. Sie ist nur noch Erinnerung.

Immer tiefer treibt sein nahendes Ende den alten Mann in eine Welt aus verzerrten Erinnerungen, die alle Wirklichkeit absorbieren und in einen Abschiedstraum vom Leben verwandeln. Darin gelten eigene Logiken. Vader macht deutlich: Altern ist nicht lustig, und es erzeugt irgendwann einmal eine Weltwahrnehmung wie in einem Horrorfilm. Alles wird gespenstisch, abgründig und durchlässig.

Eines Tages findet der Sohn sich in dem Heim gefangen. Ein Sohn des Sohnes taucht auf. Und die Sängerin verwandelt sich in des Sohnes Tochter. Sie wird irgendwann unter einen Tisch gekehrt. Schließlich ist da auch noch Marie, die davon fantasiert, wie alle Heimbewohner gemeinsam Leo töten wollen.

Marie ist gefährlich. Aber Leo wird nicht umgebracht. Denn in Vader geht es nicht um ein Drama, sondern um den hier als poetischer Prozess dargestellten finalen Geisteszustand. Um das verwehende Leben und um die Gefühle, die noch einmal ganz groß werden, bevor sie sich zum Glück auflösen. Vader ist tatsächlich ein Stück über das Altsein. Es ist weder therapeutisches Theater noch auf Korrektheit hingetrimmt, und trotzdem wirkt es tröstlich. Daher mischt sich in den begeisterten Applaus des Publikums am Schluss ein leises Unbehagen.

Peeping Tom betreibt ein wenig Schönfärberei. So berührend feinsinnig ist das Sterben vielleicht doch nicht. Aber wer will die realen Härten des Hinsiechens heute schon sehen? Am Ende verschwindet Leo in seinem Klavier. Eine liebevolle Szene, mit der allerdings dick unterstrichen wird: Unsere Gesellschaft leidet unter einer Belastungsphobie und hat sich von jeglicher Katharsis abgemeldet.

Das ist auch in dem Projekt Time has fallen asleep in the afternoon sunshine der norwegischen Tänzerin und Performancekünstlerin Mette Edvardsen zu erkennen, die wie Peeping Tom aus dem Umfeld von Alain Platels Les Ballets C de la B kommt. In der Salzburger Stadtbibliothek werden (bis Samstag) Begegnungen zwischen je einem Besucher und einem Buch arrangiert.

In Edvardsens lebender Büchersammlung verkörpert unter anderen Kristien Van den Brande souverän Herman Melvilles Erzählung Bartleby, the Scrivener: A Story of Wall Street. Eine halbe Stunde lang gibt sie mit ruhiger Stimme den Text auswendig wieder. Und Sonia Si Ahmed spielt Emine Sevgi Özdamars Roman Seltsame Sterne starren zur Erde, in dem auch die Mühl-Kommune eine gewisse Rolle spielt. Ein Kunsterlebnis der Extraklasse, das man nicht versäumen sollte. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 27.6.2014)