"Die herrliche Landschaft, immer der blaueste Himmel, die anmutigste Luft und keine Spur von trüben Tagen!" Johann Wolfgang von Goethe war selbst zwar nie auf Lesbos. Die Schwärmereien des Dichterfürsten beziehen sich dennoch - zumindest indirekt - auf die drittgrößte Insel Griechenlands.

Einer der ersten erotischen Romane der Weltliteratur

Was Goethe da lobpreist, sind die bukolischen Schilderungen in Daphnis und Chloe, einem der ersten erotischen Romane der Weltliteratur. Die Liebesgeschichte der beiden Findelkinder spielt nämlich auf Lesbos und wurde ebendort im dritten Jahrhundert verfasst. Auf dem Eiland in der östlichen Ägäis mag sich in den vergangenen knapp 1.800 Jahren zwar einiges verändert haben. Doch die Landschaft und das Wetter der Insel, die als eine der sonnenreichsten überhaupt gilt, scheinen sich nach wie vor an die Dichterworte zu halten.

Foto: Klaus Taschwer

Man nehme nur Skala Eressos, ein kleiner abgelegener Küstenort im Westen der Insel: Der drei Kilometer lange dunkle Sandstand, der als einer der schönsten Griechenlands gilt, liegt quasi vor einem natürlichen Amphitheater aus kahlen Felsen. Im kleinen Fluss, der sich in einem grünen Tal bis zum Meer schlängelt, paddeln friedlich Schildkröten.

Eine Insel mit Vergangenheit

Wie so viele andere Orte auf Lesbos, so haben auch Skala Eressos und das dazugehörige Dorf Eressos im Hinterland eine lange und bewegte Geschichte. Vor allem wurde dort vor mehr als 2.600 Jahren Sappho geboren, die bedeutendste Lyrikerin der Antike, die auf Lesbos eigentlich eine Schule für aristokratische Töchter betrieb und nebenbei in ihren hochemotionalen und erotischen Gedichten unter anderem die Schönheit ihrer Schülerinnen besang.

Auch wenn die sexuelle Orientierung von Sappho bis heute umstritten ist, so wurde "sapphisch", vor allem aber "lesbisch" zum Adjektiv für weibliche Homosexualität. Einigen Bewohnern von Lesbos ist das bis heute nicht ganz recht. Drei von ihnen wollten im Jahr 2008 vor einem griechischen Gericht erwirken, dass homosexuelle Frauen nicht mehr das Wort "lesbisch" verwenden dürfen. Ihr Ansinnen blieb ohne Erfolg.

Frauenreiseführer für Lesbos

In Skala Eressos hat man sich mit dem Erbe der berühmtesten Tochter der Insel gut arrangiert, wie Tzeli Hadjidimitriou bei einem Drink auf einer der lauschigen Terrassen erzählt, die im Ort direkt auf den Strand hinaus gebaut sind. Die griechische Journalistin und Fotografin hat selbst auch einiges dazu beigetragen und einen englischen Frauenreiseführer für Lesbos und im Speziellen über Sapphos engere Heimat verfasst - schließlich ist der malerische Küstenort seit etlichen Jahren beliebter Frauentreffpunkt mit einem internationalen Kulturfestival im September.

Strandaussicht mit Geschichte: In der Gegend von Eressos wurde vor 2.600 Jahren Sappho geboren. Im September wird der Ort zum internationalen Frauentreffpunkt.
Foto: Klaus Taschwer

Doch auch abseits von Skala Eressos gibt es auf Lesbos eine reiche Geschichte und jede Menge Naturwunder zu entdecken. Zum Beispiel die rund 19 Millionen Jahre alten versteinerten Baumstämme, die sich etwas weiter im Norden der Insel erhalten haben. Der versteinerte Wald ist in dieser Form weltweit einzigartig, genießt Unesco-Schutz und wird im neuen naturgeschichtlichen Museum von Sigri seit kurzem auch prächtig präsentiert.

Majestätische Flamingos in einem kleinen Salzsee

Lesbos ist aber nicht nur Hotspot für botanisch Interessierte, sondern auch für Birdwatcher aus vielen Teilen der Welt: Mehr als 300 Vogelarten lassen sich im Frühjahr und im Herbst in einem kleinen Salzsee mitten auf der Insel blicken, darunter auch die majestätischen Flamingos. Dass die Insel, die nur wenige Kilometer vom türkischen Festland trennen, nach wie vor mit so vielen Naturschönheiten aufwarten kann, liegt auch an der Beschaulichkeit, die sich vielerorts auf Lesbos erhalten hat - egal ob im malerischen Küstenstädtchen Molyvos, im Fischerdorf Skala Sykamia oder im Wallfahrtsort Agiassos.

Wer auf organisierte Massenvergnügungsangebote Wert legt, wird auf der Insel eher nicht fündig und glücklich werden. All jene aber, die lohnende Umwege und verschlungene Wanderwege den touristischen Trampelpfaden vorziehen, der wird von Lesbos vermutlich ähnlich schwärmen wie Goethe. Obwohl der selbst gar nie dort war. (Klaus Taschwer, Album, DER STANDARD, 28.6.2014)