Zu Beginn und am Ende sagt er ein Gebet, dazwischen erklärt Tayyip Erdogan eine Stunde lang, was er alles als Präsident der Türkei schaffen wird. Ein Mann auf der Höhe seiner Macht, der sich nun anschickt, noch eine letzte Stufe auf der Treppe zu nehmen. "Wir haben Politik für Allah gemacht, wir haben Politik für die Nation gemacht", erklärt der 60-jährige fromme Premier am Dienstag den Zuhörern in Ankara. Mehmet Ali Sahin, einer der stellvertretenden Parteichefs, hat Erdogan gerade zum Präsidentenkandidaten erklärt. Nach langen Beratungen in der Partei, so sagt er. Niemand im Land hat anderes erwartet.
Erdogans Sieg bei der Wahl am 10. August gilt als sicher. Wenn nicht schon in der ersten Runde, dann zwei Wochen später in der Stichwahl. Nicht wenige hatten ihn vor einem Jahr abgeschrieben, als sein autoritärer Regierungsstil Massenproteste in der Türkei auslöste. Erdogans Präsidentenprojekt schien gestorben.
Affären abgeschüttelt
Doch der Mann aus dem Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa hat die Proteste ebenso abgeschüttelt wie später die Korruptionsermittlungen. Nach zwölf Jahren als Premier will Erdogan seine Regentschaft in der Türkei fortschreiben. "Mein einziges Ziel ist, 77 Millionen Menschen einen guten Dienst zu erweisen", versichert er in seiner Kandidatenrede. Es ist eine für Erdogan-Verhältnisse kleine Kongresshalle in der türkischen Hauptstadt, die für diese Art von Inthronisierung ausgesucht wurde. 4000 ausgewählte Erdogan-Anhänger dürfen dabei sein - Minister, Parteiführer, Bürgermeister von Großstädten, junges Parteivolk für die anfeuernden Zwischenrufe.
Ehefrau Emine und Bülent Arinç, der Vizepremier und langjährige Weggefährte, sind gerührt, als die Videobilder von Erdogans langem politischem Aufstieg über die Leinwand flimmern, und wischen sich Tränen aus den Augen. Auch mehr als ein Jahrzehnt nach ihrem Erdrutschsieg bei den Parlamentswahlen denkt das Lager der Konservativ-Religiösen an Vergeltung gegen die "weißen Türken", das alte Establishment der säkularen, von der Armee gestützten Elite. "Sie haben seit 200 Jahren unser Selbstbewusstsein gebrochen", sagt Erdogan in seiner Rede, "sie haben Demokratie nicht als ein Recht für uns gesehen."
"Wir sind das Volk"
Erdogan nennt die Kemalisten nicht beim Namen, aber er hat nur Hohn für sie übrig. "Wer seid ihr?", fragt er die alte Elite ebenso wie die heutigen Parteigänger der sozialdemokratisch-nationalen Opposition und gibt seine Antwort: "Wir sind das Volk."
Die erste Direktwahl eines türkischen Präsidenten sei deshalb nicht einfach eine "technische Änderung", erklärt Erdogan; "dies ist ein Wendepunkt für unsere Demokratie". Die Geschichte der Bevormundung des Volks durch den Staat sei damit vorbei.
Tatsächlich waren alle türkischen Präsidenten - angefangen beim Republikgründer Kemal Atatürk - entweder selbst Militärs oder von der Armee gebilligt worden. Noch bei der Wahl des amtierenden Präsidenten Abdullah Gül von der regierenden konservativ-islamischen AKP durch das Parlament im Jahr 2007 hatte die Armeeführung versucht, mit einer schriftlichen Warnung Einfluss auf die Abstimmung zu nehmen.
EU-Mitgliedschaft Priorität
Allen Attacken auf seine politischen Gegner zum Trotz versicherte Erdogan in seiner Rede, dass er ein "Präsident aller" sein werde. "Wir haben das Volk nie gespalten", behauptete er. Unerwartet angesichts seiner regelmäßigen verächtlichen Bemerkungen war Erdogans Bekenntnis zu Europa: "Ich werde mich um die Vollmitgliedschaft in der EU bemühen", versprach der Kandidat; die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei und die "Verbesserung der Demokratie" folgten erst danach als seine Prioritäten.
Auch Sebastian Kurz tauchte unvermutet in Erdogans Kandidatenrede auf: Er habe kürzlich den österreichischen Außenminister getroffen, der erst 27 Jahre alt sei, sagte er. Erdogan nahm dies als Anlass, um für eine Senkung des Wahlalters für Abgeordnete im türkischen Parlament von derzeit 21 Jahre auf 18 zu werben.
Erdogans Gegner bei der Wahl sind der konservativ-muslimische Diplomat Ekmeleddin Ihsanoglu als gemeinsamer Kandidat der Sozialdemokraten und Rechtsnationalisten sowie der kurdische Parteiführer Selahattin Demirtas. (Markus Bernath, DER STANDARD, 2.7.2014)