Teil der App "Maseltov" soll ein Serious Game sein.

Foto: Joanneum Research

Es soll Migranten auf Situationen in ihrer neuen Umgebung vorbereiten und sie unterschiedliche gesellschaftliche Handlungsweisen kennenlernen lassen.

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Ein fremder Ort, eine fremde Sprache, unbekannte Gebräuche und wenig Geld, das das Leben erleichtern könnte. Dazu eine Vielzahl an bürokratischen Hürden, der Druck, Arbeit und Wohnung finden zu müssen, und die Notwendigkeit, ein neues soziales Umfeld aufzubauen. - Menschen, die in einer neuen Kultur Fuß fassen wollen oder - als Flüchtlinge - müssen, stehen vor vielen Herausforderungen. Die Gesellschaft des Landes, das vielleicht zur neuen Heimat wird, nennt es Integration. Für die Migranten bedeutet es zuerst einmal, die Schilder der Amtsstuben zu entziffern, eine Adresse in der Stadt zu finden oder Smalltalk zu üben.

Mobile Assistenz für Migranten

Neue Computer- und Kommunikationstechnologien helfen nicht nur, dass der Kontakt zur alten Heimat einfacher wird. Sie könnten auch bei den ersten Schritten in die neue Gesellschaft behilflich sein, glaubt Lucas Paletta von der Grazer Forschungsgesellschaft Joanneum Research. Er ist Koordinator des EU-Projekts Maseltov (Mobile Assistance for Social Inclusion and Empowerment of Immigrants with Persuasive Learning Technologies and Social Network Services). In Zeiten von Smartphones und Tablets soll es auch eine mobile Assistenz für Migranten geben: eine App, die bei der Integration hilft.

Maseltov soll als Anwendung "ein positives Zeichen der EU an die Ankommenden" sein, sagt Paletta. Die App besteht aus einer ganzen Reihe von Komponenten: Ein Informationsservice soll pragmatische Notwendigkeiten abdecken und beispielsweise zustän-dige Ämter auflisten, ein Navigationsservice helfen, sich in der Stadt zurechtzufinden. "Points of interest" in der Umgebung, etwa Ärzte oder Sprachschulen, werden automatisch angezeigt.

Übersetzungshilfe

Eine sogenannte Textlinse erkennt per Smartphone-Kamera Wörter auf Häusern, Schildern, in Bussen oder Geschäften und übersetzt sie in die Herkunftssprache der Migranten. Ein multimediales Sprachlernprogramm bietet an verschiedene Level angepasste Lektionen an, die helfen, die Kompetenz in der Sprache des Gastlandes weiterzuentwickeln - laut Paletta eines der Hauptziele der Smartphone-App.

Aufgrund der Aktivitäten der Benutzer soll die App selbsttätig Empfehlungen abgeben. "Wenn zum Beispiel mit der Textlinse etwas übersetzt wurde, was mit Reisen zu tun hat, könnte die App empfehlen, eine entsprechende Lektion im Sprachlernprogramm noch einmal durchzuarbeiten", erklärt Paletta. Das "Recommandation System" könnte nicht nur auf Eingaben, sondern etwa auch auf den momentanen Aufenthaltsort des Smartphones-Besitzers reagieren. In jedem Fall soll ein aktuelles Interesse benutzt werden, um wichtige Kenntnisse zu vermitteln. "Ich lerne dort am meisten, wo ich selbst betroffen bin."

Spiel gegen Hemmschwellen

Auch auf spielerische Weise sollen in der App Berührungsängste und Hemmschwellen abgebaut werden. An der britischen Coventry University, einer der 14 Konsortialpartner des EU-Projekts, wurde ein Serious Game entwickelt, in dem verschiedene Situationen durchgespielt werden können: am Bahnhof nach dem Weg fragen, ein Gespräch mit dem Arzt, ein Bewerbungsgespräch.

Vor dem Hintergrund der Theorien über interkulturelle Zusammenarbeit des niederländischen Theoretikers Geert Hofstede können die Spieler verschiedene Voreinstellungen wählen, die sie in den Spielsituationen beispielsweise autoritäres oder antiautoritäres Verhalten erfahren lässt, erklärt Paletta. Die User lernen dabei verschiedene gesellschaftliche Handlungsweisen kennen und üben realitätsnahe Gesprächsroutinen. Punkte, die die Nutzer in den verschiedenen App-Bereichen sammeln, können im Spiel verwendet werden, um ihren Avatar zu personalisieren.

Schlussendlich soll die App für die Migranten sowohl ein offenes Austauschforum bieten als auch die Verbindung zu "guten Geistern" herstellen. Per Chat sollen NGO-Mitarbeiter und Hilfeleister, etwa aus der jeweiligen Migranten-Community, beraten, helfen und Auskünfte erteilen.

"Integration ist eine bilaterale Sache. Wir wollen nicht Österreicher klonen, sondern den Migranten helfen, die richtigen Schnittstellen zu finden, um als Bürger zu funktionieren", sagt Paletta. Er warnt aber gleichzeitig auch vor der "gefährlichen Annahme", dass eine Smartphone-App andere Integrationsleistungen ersetzen könnte.

Mit Zielgruppe entwickelt

Um Maseltov zu einer echten Hilfe zu machen, wurde die App mit der Zielgruppe gemeinsam entwickelt. Am Anfang seien in Studien Probleme und Bedürfnisse von Immigranten erhoben worden. Es wurde klar, dass Smartphones in der Zielgruppe breite Anwendung finden.

Gemeinsam mit dem Wiener Forschungszentrum Cure - der Projektpartner wanderte mittlerweile unter das Dach des AIT Austrian Institute of Technolgy - und der Grazer NGO Danaida wurden Migranten zu Workshops eingeladen, um an Design und Funk- tionen mitzuarbeiten. Im Herbst steht eine Endevaluierung mit etwa 80 Usern an. Paletta: "Früher haben Techniker allein eine Lösung produziert, heute wird die Zielgruppe von Beginn an miteingebunden."

Evaluierung in drei Ländern

Um den sorgsamen Umgang mit den anonymen Daten, die durch die Benutzung der App anfallen, zu gewährleisten, wird eine Kooperation mit einer NGO angestrebt. Sie soll als ethische Instanz agieren und Datenmissbrauch verhindern.

Maseltov wird in Europa vorerst für drei Migrantengruppen in drei EU-Ländern angepasst: für lateinamerikanische Einwanderer in Großbritannien, für arabischstämmige in Spanien und für türkische in Österreich. Die App soll entweder gratis oder sehr kostengünstig ab 2015 für Android- und Apple-Smartphones verfügbar sein.  (Alois Pumhösel, DER STANDARD, 2.7.2014)