Elena Messner: "Gedenken an einen Krieg sollte vor allem ein Nachdenken darüber sein, wie man ein Zusammenleben organisieren kann, in dem der Schutz des Menschen und die Wahrung seiner Rechte oberste Priorität haben."

Foto: Alexander Schuppich

Die Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg hundert Jahre später bedeutet auch eine Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen politischen Situation sowie mit der offiziell betriebenen Erinnerungskultur. In ihrem Debütroman "Das lange Echo" legt die Literaturwissenschafterin Elena Messner eine kritische Auseinandersetzung mit dem großen Gedenkjahr vor. Darin verbinden sich Vergangenheit und Gegenwart, Wissenschaft und Literatur zu einem leidenschaftlichen Plädoyer für Widerstand gegen Nationalismus und Kriegshetzerei.

Der Roman handelt vom österreichisch-ungarische Offizier Milan Nemec, der seit 1916 im besetzten Belgrad den Zusammenbruch seines Reiches erlebt und gezwungen wird, die bis dato für selbstverständlich gehaltenen gesellschaftspolitischen "Wahrheiten" radikal zu hinterfragen. Hundert Jahre später entbrennt ein heftiger Streit zwischen der Direktorin des Wiener Heeresgeschichtlichen Museums und ihrer Assistentin über den Umgang mit der Geschichte und über die Interpretation der angeblich objektivierbaren Faktenlage. Im Gespräch mit daStandard.at erzählt die Autorin, welchen Sinn es hat, sich diesem komplexen Thema literarisch anzunähern.

daStandard.at: Wie kommt man als junge Autorin auf die Idee, einen Roman über den Ersten Weltkrieg zu schreiben?

Messner: Der konkrete Auslöser war für mich die Lektüre anderer Texte. In dem Fall von sogenannten "wehrwissenschaftlichen" beziehungsweise militärhistorischen Artikeln, die mich in ihrer Verlogenheit abgestoßen haben.

Als ich Ende des Jahres 2013 in verschiedenen Zeitungen bereits verfolgen konnte, wie das große Gedenkjahr in gewissen Kreisen auf eine sehr problematische Weise vorbereitet wurde, entstand der Wunsch, eine eigene Auseinandersetzung damit vorzulegen. Allerdings habe ich keinen Geschichtsroman geschrieben, mich interessiert vielmehr die Gegenwart. Mir war wichtig, zu zeigen, dass hinter jedem "kollektiven" Gedenken an Konflikte und Kriege konkrete politische Interessen stehen.

daStandard.at: Wie könnte denn eine heutige Erinnerungskultur aussehen, 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg?

Messner: In allen Ländern, so auch in Österreich, gibt es jede Menge widersprüchlicher Erinnerungsmuster. Die Erinnerungskultur in Österreich müsste international oder zumindest europäisch ausgerichtet sein, aber das ist nicht der Fall.

Es wird zum Beispiel immer noch sehr gerne ignoriert, dass auf österreichischer Seite eine unglaublich große Zahl slawischer Soldaten kämpfte – für fremde Interessen und ein Reich, das ihnen bis auf wenige Ausnahmen keine Gleichberechtigung gewährte. Und während also ein riesengroßer Teil der Armee sowie zahlreiche zivile Opfer aus diesen slawischen Bevölkerungsgruppen kamen, werden diese aus dem österreichischen Erinnerungsdiskurs zumeist ausgeschlossen oder, noch schlimmer, nachträglich zu "Verrätern" erklärt.

Ich finde es fragwürdig, heute des Ersten Weltkriegs zu gedenken, ohne die widersprüchlichen Erinnerungsnarrative, die etwa in Ungarn, Slowenien, Kroatien, Bosnien, Serbien, auf dem Gebiet des damaligen Galizien, Tschechien oder der Slowakei kursieren, zu berücksichtigen, die damals zu "Österreich" gehörten.

daStandard.at: Was ist mit der Schuldfrage? Waren die Habsburger verantwortlich für den Kriegsausbruch?

Messner: Die Habsburger werden heute gerne verniedlicht, ihre imperialistischen Bestrebungen sowie die Verbrechen der österreich-ungarischen Truppen an der Zivilbevölkerung werden oft verharmlost. Diese Fragen müssten im Rahmen einer kritischen und verantwortungsvollen Erinnerungskultur gestellt werden.

Die einzige wirklich interessante Frage ist jedoch, wie solche Kriege in Zukunft verhindert werden können. Gedenken an einen Krieg sollte vor allem ein Nachdenken darüber sein, wie man ein Zusammenleben organisieren kann, in dem der Schutz des Menschen und die Wahrung seine Rechte oberste Priorität haben und nicht wirtschaftliche und politische Interessen der Eliten.

daStandard.at: Passiert das nicht?

Messner: Viele Gruppen und öffentliche Institutionen nutzen das Gedenkjahr für heroische und nostalgische Erinnerungsfeierlichkeiten und versuchen, statt Geschichte kritisch aufzuarbeiten, zum Beispiel nur die Mitschuld Österreich-Ungarns am Kriegsausbruch zu leugnen oder zu verharmlosen.

Wenn man zum Beispiel das Heeresgeschichtliche Museum als ein staatliches, dem Verteidigungsministerium unterstelltes "Imagemuseum" des Bundesheers heranzieht, wie ich es im Roman ja angestellt habe: Eine kritische Sicht gegenüber dem damaligen Heer und dem Kaiserreich fand man da in den bisherigen Ausstellungen nicht.

daStandard.at: Ein Thema des Romans ist die Diskrepanz zwischen der "wissenschaftlichen" Beschäftigung mit Geschichte, mit Krieg und einer Auseinandersetzung, die menschliche, individuelle bzw. psychologische Aspekte berücksichtigt und "Einzelschicksale" darstellen möchte: Es wird harte Kritik an der wissenschaftlichen Auseinandersetzung geübt, die mitunter "missbraucht" werde, um eine eigene "Agenda" durchzudrücken, ohne gezwungen zu sein, ihre Meinung offenzulegen.

Messner: Ich habe für die Fragen, die mich interessiert haben, nach einer Form gesucht, die es erlaubt, dass nicht nur Zeitebenen, sondern auch verschiedene, sich widersprechende Gedanken und Gefühle in eine Textpassage integriert werden können.

Ich wollte nicht, dass Vergangenheit und Gegenwart einfach nur in zwei voneinander losgelöste Handlungsstränge aufgesplittert werden, sondern dass sie ineinander übergehen, sich überlappen. Der pseudoobjektiven militärstrategischen Analyse habe ich also Familiengeschichten und Figuren entgegenzustellen versucht, die Unglaubliches durchleben und kaum verarbeiten können.

Die Figur Milan Nemec diktiert zum Beispiel am Ende seines Lebens als ehemals österreichischer und dann jugoslawischer Offizier in Ljubljana seine Erinnerungen auf Deutsch, die werden von seiner Frau aufgeschrieben – und fast ein Jahrhundert später versucht eine Urenkelin aus einer schlechten Handschrift eine wissenschaftlich fundierte Analyse zu machen, die sie aber auch durch Gespräche mit der Großmutter und viele anderen historischen Quellen nicht zu einem für sie befriedigenden Ende bringt.

Und ich wollte mit dieser sehr realistischen Lebensgeschichte – ich habe viele Fälle wie den von Milan Nemec in den Quellen gefunden – zeigen, wie lächerlich die Idee von "Nation" oder einer "ethnisch homogenen" Kulturen ist.

daStandard.at: Was kann denn Literatur im Unterschied zur Wissenschaft zu einer kritischen Betrachtung von Geschichte beitragen?

Messner: Einmal abgesehen von einem ästhetischen Vergnügen, das man an der Sprache haben kann, gibt es auch inhaltlich einen großen Unterschied: Gerade im Unterschied zur sich so objektiv gebenden Wissenschaft kann Literatur von abstrakter Geschichtsreflexion in die Köpfe von Figuren wechseln und vor allem Zeit und Ort des Erzählten ständig infrage stellen.

Ein literarischer Text kann den wissenschaftlichen Diskurs parodieren und damit seine Objektivität hinterfragen – das sind in meinem Roman die komischsten, ironischsten Stellen. Das war mir wichtig: den nur angeblich objektiven, dabei hochparteiischen wehrwissenschaftlichen Diskurs zu demaskieren, hinter dem sich so oft ultranationalistisches und lebensfeindliches Denken versteckt. Dem wollte ich Gegenstimmen entgegensetzen. (Mascha Dabić, daStandard.at, 3.7.2014)