Tahliah Barnett alias FKA Twigs setzt als Sexgöttin from outer space thematisch auf zeitlosen Stoff.

Vielleicht muss man sich von der ewigen Frage verabschieden, ob Pop nun weiterhin eine zukunftsweisende Veranstaltung sein kann, obwohl doch nichts mehr neu erfunden wird. Alles war schon mindestens zweimal da; dementsprechend wird nur noch wiedergekäut, collagiert und drittverwertet. In der Hochkultur begegnen auskunftsfreudige Regisseure und Dramaturgen am Theater der faulen Journalistenfrage, ob es sich bei einem Königsdrama von Shakespeare denn noch um ein im 21. Jahrhundert "relevantes" Stück handle, gewöhnlich mit dem Einserschmäh von der ewigen "Hochaktualität" oder "Zeitgenossenschaft" des Stoffes. Liebe, Verrat, Schuld, Sühne, Autoverfolgungsdjagd, Sex, Sex, Begehren, Gier, Machtstreben, Welteroberung, Sex. Der Rest ist Ausstattung und die Frage, durch welche Tür oder hohle Gasse wann welcher Prinz oder Schurke (oder beides) auf- und abtritt.

Der Lauf der Welt

Simon Reynolds' diesbezügliche vor einigen Jahren erschienene Pop-Studie "Retromania" liest sich zwar auf dem Scherbenhaufen der ganzen Geschichte angekommen noch immer nett und plausibel. Vergessen wird allerdings auf eines: Jeder Generation wieder ist es herzhaft egal, ob nun die gleichaltrigen Kollegen, die gerade den Soundtrack zum aktuellen Lifestyle abliefern, das alles selbst erfinden oder schamlos von den Altvorderen stehlen. Neues lässt sich nicht durch Altes relativieren. Man sieht dabei sehr schnell selbst alt aus. Das Neue gilt den Jungen immer als wesentlicher. Das ist der Lauf der Welt.

Tahliah Barnett alias FKA Twigs wurde 1988 in der Nähe des britischen Bristol als Tochter einer Spanierin und eines Jamaikaners geboren und fällt bezüglich ihrer Musikerziehung etwas aus der Rolle. Statt Britney Spears oder dem in ihrer Jugend gängigen R-'n'-B- und Hip-Hop-Zeugs von Überstar Aaliyah oder Little Missy Elliott und vor allem dem ganzen barocken Multimillionärs-Fete-blanche-Hitparaden-Geblinge und Geschmachte hörte sie lieber Punk, lustige Roboterbands wie Kraftwerk oder Devo, Althysterikerin Kate Bush und überhaupt alles, was wirklich merkwürdig klang - wie etwa die frühe feministische Band X-Ray Spex.

Herausragende Arbeiten

Ganz aus der Rolle schlug sie nicht, immerhin standen auch Jazztanz und Operngesang auf dem Trainingsprogramm. Im Übrigen begann Tahliah Barnett für ihre Karriere zu Hause Musik zu programmieren, studierte Mode, Auftreten, Videoclip-Geschichte, Design, saugte also im Wesentlichen die ganze Popgeschichte im Sinne David Bowies auf. Nach jahrelanger Vorbereitung und einer Charaktereigenschaft, die man wohl am besten mit einem starken Willen beschreibt, veröffentlichte FKA Twigs in den vergangenen anderthalb Jahren mit den Kurzarbeiten "EP1" und aktuell mit "EP2" und der phänomenalen Single "Two Weeks" beeindruckende und aus der Flut im Monatstakt veröffentlichter Popsensationen herausragende Arbeiten ausgerechnet in jenem Genre, das von ihr so abgelehnt wird.

Trotz allen Widerwillens gegen zeitgenössischen R 'n' B fischt Tahliah Barnett im scheinbar abgegrasten Hightech-Soul-Derivat. Auf ihrem Anfang August erscheinenden Debütalbum "LP1" verstärkt sie ihr Ein-Frau-Unternehmen dabei mit Produzenten wie Arca, der schon Kayne West auf Yeezus unter die Arme griff oder mit Paul Epworth von Adele oder Bloc Party oder Emile Haynie (Lana del Rey). Man hört auf Songs wie "Two Weeks" zwar edelsten Hochglanz-Sound. Im Gegensatz zur Konkurrenz vertraut FKA Twigs dabei allerdings nicht auf schwelgerische Melodien und opulente Arrangements, sondern legt das Hauptaugenmerk auf perkussive Elemente, die mit minimalistischen Bassriffs und sperrigen Melodiekürzeln behübscht werden. Über allem schwebt die zart verwehte Falsettstimme der Sängerin, die durch den modernen Fuhrpark gängiger Vokalverfremdungsgeräte gejagt wird.

Zeitloser Stoff

Thematisch wird auf zeitlosen Stoff gesetzt. Im Mittelpunkt stehen Sex und Liebe - vor allem auch die Eigenliebe. Der Song "Water Me" umkreist die Sache recht eindeutig: "He won't make love to me now / I guess I'm stuck with me." Und auch in "Kicks" wird es eindeutig: "I just touch myself and say / I make my own damn way." Das gegenwärtig auf Youtube für Furore sorgende Video zu "Two Worlds" zeigt FKA Twigs als Sexgöttin from outer space, "Papi Pacify" ist ein Softporno in diskussionswürdiger Opfer-und-Täter-Umkehr. Sex als Befreiungsschlag, alter Hut, immer gern nachgefragt.

FKA Twigs lebt und arbeitet heute in Ostlondon. Ihr auf das Mindestmaß heruntergebrochener, kluger und reflexiver R 'n' B wird sich am Ende des Jahres in diversen Bestenlisten ganz vorne finden. (Christian Schachinger, Rondo, DER STANDARD, 3.7.2014)