Spontaner Kniefall: Tamara (Caroline Sihol) und ihr Gatte Jack (Michel Vuillermoz) in Alain Resnais' aus Farbe, Pappe und Gartenzwerg gemachtem wunderbarem Reduktionsgärtlein. 

Foto: Stadtkino

Der Film beginnt mit einer rasanten Autofahrt auf schmaler, kurvenreicher Strecke unter Bäumen hindurch, irgendwo in "Yorkshire im Frühling". Das Setting ist real. Aber weil es genauso aussieht, wie man sich eine englische Landschaft üblicherweise ausmalt, könnte es auch eine Kulisse sein.

Die Fahrt endet, und man befindet sich tatsächlich in einer solchen: In zarten Farben gestrichene Längsbahnen, eine Rabatte und eine zweidimensionale Buschattrappe stellen ein schmales Gärtlein hinter einem Wohnhaus dar. Dort sitzen Kathryn (Sabine Azéma) und Colin (Hippolyte Girardot) an einem Tischchen beim Frühstück. Die Marmelade ist echt, der Dialog dazu kommt aus dem Textbuch. Kathryn bereitet sich auf eine Probe vor.

Dieser Einstieg in den Film setzt eine heitere Note, zeugt von Freiheit. Hier verfolgt einer unbeirrt sein Projekt - und er tut dies mit einer großen, einladenden Geste.

Spielerisches Lebenswerk

Aimer, boire et chanter / Life of Riley ist der jüngste Film von Alain Resnais und zugleich auch sein letzter: Im März dieses Jahres, rund ein Monat nach der Uraufführung bei der Berlinale (und der Würdigung mit dem Alfred-Bauer-Preis), starb der französische Regisseur im Alter von 91 Jahren. In Aimer, boire et chanter spielt Resnais, dessen Anfänge ein Stück vor der Nouvelle Vague liegen, also ein letztes Mal mit jenen Elementen, die sein Lebenswerk prägen.

Seine Vorliebe fürs Theater - und für die Stücke des Briten Alan Ayckbourn - gehört dazu, sein Faible für Comics und für die Musik und nicht zuletzt sein Darstellerensemble: Sabine Azéma - auch im Leben Resnais' Partnerin - und André Dussolier waren über Jahrzehnte gewissermaßen fix bei ihm engagiert. Caroline Sihol ist nach einer langen Pause wieder da, Michel Vuillermoz hat 2006 in Herzen debütiert, Sandrine Kiberlain ist diesmal der Neuzugang.

Große Abwesende

Hippolyte Girardot stieß im vorletzten Film des Franzosen, Ihr werdet euch noch wundern / Vous n'avez encore rien vu, dazu. Darin versammelte ein unsichtbar bleibender Dramatiker eine Gruppe namhafter Schauspieler und Schauspielerinnen in seinem Haus, damit ihm diese einen letzten Wunsch erfüllen. Es ging um eine Wiederaufführung des ihnen allen bekannten Stückes Eurydike - und schnell wurden die Grenzen zwischen Leben und Kunst, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Erinnerung und Projektion aufs Schönste verwischt.

Auch in Aimer, boire et chanter wird Theater gespielt: Drei der handelnden Personen studieren gerade Alan Ayckbourns Stück Relatively Speaking für eine lokale Aufführung ein. Der vierte Mitwirkende ist diesmal der große Abwesende: Es handelt sich um einen gewissen George Riley, von dessen tödlicher Erkrankung die Gruppe durch eine kleine Indiskretion erfährt. Alle Personen teilen zumindest indirekt ein Stück Lebensgeschichte mit George. In unterschiedlichen Figurenkonstellationen werden Erinnerungen beschworen, Geheimnisse verraten, Liebeshändel ausgetragen.

Maulwurf lässt grüßen

In dieses Gerüst einer Verwechslungskomödie, die letztlich die Freundschaft und das Leben feiert und ebenso klug reduziert ist wie das Dekor, sind unverwechselbare, einprägsame Szenen eingepasst. Resnais' Kino kommuniziert mit anderen Künsten und nutzt die Wechselwirkung von Künstlichkeit und Ernst, von spielerischer Andeutung und Aktion für die schönsten Pointen. Wer wirklich fest gegen einen Baumstumpf tritt, der tut sich dabei auch richtig weh - und ein Kunstpelzmaulwurf lässt schön grüßen. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 4.7.2014)