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"Chaos im Gehirn" nach einer durchwachten Nacht.

Foto: AP/Daniel Naupold

Ein internationales Forscherteam hat in einem Experiment festgestellt, dass nach einem 24-stündigen Schlafentzug bei gesunden Probanden zahlreiche Symptome festgestellt werden, die sonst typischerweise der Psychose oder der Schizophrenie zugeschrieben werden.

Bei einer Psychose kommt es zu einem Verlust des Realitätsbezugs, der mit Halluzinationen und Wahnvorstellungen verbunden ist. Die chronische Form wird als Schizophrenie bezeichnet, bei der es ebenfalls zu Denkstörungen und Sinnestäuschungen kommt. Betroffene berichten zum Beispiel, dass sie fremde Stimmen hören.

„Uns war klar, dass es nach einer durchwachten Nacht zu Beeinträchtigungen des Konzentrationsvermögens kommt“, sagt Ulrich Ettinger vom Institut für Psychologie der Universität Bonn. „Wir waren aber überrascht, wie ausgeprägt und wie breit das Spektrum der schizophrenieähnlichen Symptome war.“

Untersuchungen im Schlaflabor

Die Wissenschafter der Universität Bonn, des King’s College London und der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Bonn untersuchten im Schlaflabor des Instituts für Psychologie insgesamt 24 gesunde Probanden beider Geschlechter im Alter von 18 bis 40 Jahren.

In einem ersten Durchgang sollten die Testpersonen ganz normal im Labor durchschlafen. Rund eine Woche später wurden sie die ganze Nacht über mit Filmen, Gesprächen, Spielen und kurzen Spaziergängen wachgehalten. Am nächsten Morgen wurden die Probanden jeweils zu ihren Eindrücken befragt. Außerdem führten die Wissenschaftler eine Messung, die so genannte Präpulsinhibition, durch.

Filterfunktion des Gehirns stark reduziert

„Die Präpulsinhibition ist ein Standardtest zur Messung der Filterfunktion des Gehirns“, erläutert Erstautorin Nadine Petrovsky. In dem Experiment ertönt über Kopfhörer ein lautes Geräusch. Bei den Probanden tritt daraufhin eine Schreckreaktion ein, die anhand der Kontraktion der Gesichtsmuskeln mittels Elektroden erfasst wird. Wird zuvor ein schwächerer Reiz als „Präpuls“ gesetzt, fällt die Schreckreaktion geringer aus. „Die Präpulsinhibition zeigt eine bedeutende Funktion des Gehirns: Filter trennen Wichtiges von Unwichtigem und beugen einer Reizüberflutung vor“, so Petrovsky.

"Chaos im Gehirn"

Bei den Probanden war diese Filterleistung des Gehirns nach einer durchwachten Nacht stark reduziert. „Es kam zu ausgeprägten Aufmerksamkeitsdefiziten, wie sie auch typischerweise bei einer Schizophrenie auftreten“, berichtet Ettinger. „Die unselektierte Informationsflut führte zu einem Chaos im Gehirn.“

Nach dem Schlafentzug gaben die Probanden zudem in Fragebögen an, etwa sensibler für Licht, Farbe oder Helligkeit zu sein. Zeitgefühl und Geruchssinn waren demnach verändert, die Gedanken sprangen. Manche Übernächtigen hatten sogar den Eindruck, Gedanken lesen zu können oder eine veränderte Körperwahrnehmung zu bemerken. „Wir hatten nicht erwartet, dass die Symptome nach einer durchwachten Nacht so ausgeprägt sein können“, sagt der Psychologe.

Für Probanden nicht gefährlich

Für ihre Ergebnisse sehen die Wissenschaftler ein wichtiges Anwendungspotenzial zur Erforschung von Medikamenten, die gegen Psychosen wirken. „In der Medikamentenentwicklung werden solche psychischen Störungen in Experimenten bislang mit bestimmten Wirkstoffen simuliert. Allerdings vermitteln diese nur sehr eingeschränkt die Symptome von Psychosen“, sagt Ettinger.

Schlafentzug sei ein viel besseres Modellsystem, weil die subjektiven Beschwerden und die objektiv erfasste Filterstörung viel stärker den psychischen Erkrankungen ähnlich seien. Gefährlich ist das Schlafentzugsmodell übrigens nicht: Nach einem ausgiebigen Erholungsschlaf sind die Symptome wieder verschwunden. Forschungsbedarf bestehe außerdem hinsichtlich der Menschen, die regelmäßig nachts arbeiten müssen. „Ob bei diesen Personen durch Gewöhnung die Symptome des Schlafentzugs allmählich schwächer werden, muss erst noch untersucht werden“, so Ettinger. (idw/red, derStandard.at, 3.7.2014)

Abstract

The Journal of Neuroscience: "Sleep Deprivation Disrupts Prepulse Inhibition and Induces Psychosis-Like Symptoms in Healthy Humans"