Ukrainische Soldaten, aufgenommen in der Nähe der Stadt Dovgenke.

Foto: Dmitry Lovetsky

Kiew/Brüssel - Nach wochenlangen verlustreichen Gefechten hat die ukrainische Armee die Separatistenhochburg Slawjansk zurückerobert. Die prorussischen Aufständischen hätten die strategisch wichtige ostukrainische Stadt nach intensiven Luftschlägen und Artilleriefeuer verlassen, sagte Bürgermeister Wladimir Pawlenko am Samstag der Agentur Interfax zufolge. Die Separatisten bestätigten den Abzug.

Die Armee verzeichnete damit den wichtigsten Erfolg seit dem Beginn ihrer Offensive. Innenminister Arsen Awakow berichtete auf seiner Facebook-Seite, dass die Separatisten in großer Zahl aus Slawjansk geflohen seien. "Sie haben Verluste erlitten und geben auf", schrieb er. Awakow zufolge zerstörte die Armee am Samstag auch das in der Stadt Artemiwsk gelegene Hauptquartier der Rebellen in der Region Donezk.

"Zahlenmäßige Überlegenheit"

Die Regierungstruppen hätten die Rebellen mit einer großangelegten Offensive gezwungen, Stellungen entlang ihrer nördlichen Front zu räumen, zitierte die Nachrichtenagentur Interfax am Samstag den Separatisten-Anführer Alexander Borodai. Die Aufständischen würden sich nun auf vorbereitete Positionen zurückziehen.

Eine Reporterin sah in der 15 Kilometer entfernten Stadt Kramatorsk einen Konvoi von 20 Militärtransportern und Bussen mit bewaffneten Rebellen, die anscheinend aus Slawjansk gekommen waren und später auch aus Kramatorsk wegfuhren. Aus dem Umfeld der Rebellen verlautete, es habe eine Übermacht der ukrainischen Truppen von fünfzig zu eins bestanden. Auch Rebellenchef Borodai sprach von einer "zahlenmäßigen Überlegenheit der feindlichen Truppen".

Auf der Internetseite des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko hieß es, die ukrainische Flagge wehe wieder über Slawjansk. Die Separatisten hatten dort im April die Fahne Russlands gehisst. Die Eroberung von Slawjansk wäre ein ganz entscheidender Sieg der Regierungstruppen, denn die Stadt war ein Zentrum des Aufstandes der pro-russischen Separatisten.

Appell an Putin

Bei den Gefechten in der Ostukraine wurden der Armee zufolge sieben Soldaten getötet und sechs verwundet. Auch die Separatisten sprachen von Verlusten in ihren Reihen. Russland forderte erneut eine sofortige Feuerpause im Nachbarland. In den seit drei Monaten anhaltenden und nur von kurzen Feuerpausen unterbrochenen Kämpfen kamen mehr als 200 ukrainische Soldaten sowie Hunderte Rebellen und Zivilisten ums Leben. Seit dem Beginn der Kämpfe im Februar wurden insgesamt mehr als 470 Tote gezählt.

Für die Anrainer von Slawjansk kam der Abzug der Separatisten überraschend. "Niemand hatte damit gerechnet" sagte Kolja Scherep. Am Samstagmorgen habe er plötzlich keine Rebellenkämpfer mehr vor dem Rathaus und auf den Barrikaden gesehen.

Die Aufständischen wollten nicht von einer Niederlage reden. Die Kämpfer seien nicht vor der Armee aus Slawjansk geflohen, sondern sie hätten lediglich zum Schutz der Zivilbevölkerung die Stellung gewechselt, sagte der Separatistenanführer Andrej Purgin. "Unser Widerstand ist nicht gebrochen", versicherte er. Die Aufständischen hatten zuletzt erneut an Russlands Präsident Wladimir Putin appelliert, russische Truppen zur Verstärkung zu entsenden.

Heiße Phase

Der ukrainische Innenminister Arsen Awakow sagte, die Kämpfer seien unterwegs nach Donezk. "Volksgouverneur" Pawel Gubarew bestätigte dies. Die militanten Gruppen wollten sich nun auf die Verteidigung von Donezk konzentrieren, sagte der Vertreter der "Volkswehr".

Der Ukraine-Sonderbeauftragte des russischen Außenministeriums, Konstantin Dolgow, sagte, er rechne mit einem zeitnahen Ende der Kämpfe. Die "heiße Phase" könne in einigen Wochen vorbei sein. "Die Überwindung dieser Krise wird aber Jahre dauern", sagte der Moskauer Diplomat. "Das Land ist zweifellos sehr tief gespalten."

Die Separatisten wollten eine Loslösung der östlichen Landesteile von der Ukraine und bekamen Aufwind nach dem Anschluss der Halbinsel Krim an Russland. Sie erklärten Teile der Ostukraine zu "unabhängigen Volksrepubliken". Der Westen warf dem russischen Präsidenten Putin vor, die Separatisten zu unterstützen und sogar einen militärischen Einmarsch zu planen. Er droht Russland deswegen mit Wirtschaftssanktionen. Vor allem Deutschland und Frankreich bemühten sich in den vergangenen Tagen, eine politische Lösung zu finden und dafür eine Gesprächsebene zu schaffen.

Bereitschaft zu Verhandlungen

Die ukrainische Regierung schlug für Samstag Gespräche über eine neue Feuerpause und einen Friedensplan vor. Über diese unter Vermittlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) herrschte am Samstag Unklarheit. Sowohl die Führung in Kiew als auch Vertreter der Separatisten bekräftigten erneut ihre Bereitschaft. Allerdings gab es bis zum Nachmittag keinen Hinweis auf mögliche Verhandlungen.

Separatistenanführer Purgin bekräftigte die Bereitschaft der Aufständischen zu Gesprächen über eine Waffenruhe. Als Ort brachte er erneut die weißrussische Hauptstadt Minsk ins Spiel. "Die Führung in Kiew will wegen der Kämpfe nicht nach Donezk kommen und die Vertreter der Volkswehr wiederum können wegen einer Sanktionsliste nicht nach Europa - da wäre Minsk ein Kompromiss", sagte Purgin.

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hatte sich bereits zuvor zu Gesprächen bereiterklärt. Eine erneute einseitige Waffenruhe schloss er aber aus. Einen Dialog könne es nur geben, wenn alle Konfliktparteien gleichermaßen die Bedingungen dafür einhalten würden, sagte Poroschenko nach Beratungen mit den Fraktionsvorsitzenden des ukrainischen Parlaments in Kiew.

NATO-Manöver

Russland warf der Ukraine den erneuten Beschuss von Stützpunkten an der gemeinsamen Grenze vor. Mindestens zehn Granaten seien am Samstag in der Nähe von Kontrollposten eingeschlagen, sagte Wassili Malajew vom Inlandsgeheimdienst FSB. Niemand sei verletzt worden. In den vergangenen Tagen hatte Russland mehrfach kritisiert, dass von ukrainischer Seite Geschosse eingeschlagen seien.

Russland stoppte unterdessen die Rückgabe von Kriegsgerät an die Ukraine, weil die Zivilbevölkerung unter diesem Beschuss leide. Nach der Einverleibung der Krim im März hatte Moskau begonnen, erbeutete Ausrüstung von der Schwarzmeerhalbinsel an Kiew zurückzugeben. Es gebe aber Hinweise, dass die ukrainische Armee die Waffen bei den Kämpfen im Osten des Landes einsetze, teilte das Außenministerium in Moskau mit.

Die NATO und Russland hielten indes parallel im Schwarzen Meer Manöver ab. An der NATO-Übung beteiligten sich Schiffe aus den USA und sechs weiteren Mitgliedsländern. Die Ukraine gehört nicht zum Bündnis. (APA, 5.7.2014)