Für Südtirols Landeshauptmann Arno Kompatscher war es ein symbolträchtiges Ereignis, dass sich die Regierungschefs Österreichs  und Italiens am Samstag erstmals in Südtirol begegneten -100  Jahre nach dem Beginn des ersten Weltkriegs, der zur Teilung

Tirols geführt habe und in dem sich beide Länder in einem blutigen Konflikt gegenübergestanden hatten.

Werner Faymann und Matteo Renzi trafen sich auf Schloß Prösels bei Völs, wo Politiker und Wissenschaftler aus mehreren Ländern zwei Tage über das Europa der Regionen diskutierten. Faymann lobte Renzi dafür, dass er zu Beginn der italienischen EU-Präsidentschaft einen Kurswechsel gefordert  und daran erinnert habe, dass die Europäische Union von vielen Bürgern als bürokratische Instanz wahrgenommen werde, die von den Interessen der Bevölkerung weit entfernt sei. "Europa müsse die Kraft aufbringen, die Lebensbedingungen der Menschen wieder mehr in den Mittelpunkt rücken und Wachstum zu schaffen, um die Arbeitslosigkeit zu verringern", so Faymann.  Renzi erinnerte daran, dass man "vor 100 Jahren in dieser Region nicht Tunnels gebaut, sondern

Europa der Regionen

Schützengräben ausgehoben " habe. Die Europaregion Tirol sei ein Modell, in dem Integration und Identität problemlos zusammenleben", sagte Renzi in Anwesenheit der Landeshauptleute Tirols, des Trentino und Südtirols.

"Die Nationen sind tot, sind aber die einzigen, die es noch nicht wissen", erklärte der österreichische Autor Robert Menasse in seiner Rede, in der er gründlich mit den Nationalstaaten abrechnete. "Die Demokratie wächst, wenn die Nation stirbt", so Menasse, der das Europa der Regionen als Zukunftsmodell bezeichnete.  Bereits der erste Präsident der EU-Kommission, Walter Hallstein, habe die Überwindung des Nationalstaats als vordringliches Ziel der europäischen Einigung bezeichnet.

"Einen solchen Satz kann Angela Merkel nicht wiederholen, ja nicht einmal denken", so Menasse. Regionen seien älter als Staaten, sie seien identitätsstiftend. Europa müsse zu einem Netzwerk der Regionen werden. Südtirol verdanke seine Lebensqualität und seinen Wohlstand nicht der Zugehörigkeit zum Nationalstaat Italien, sondern der Autonomie. Nationalstaaten seien Auslaufmodelle, die künstlich am Leben erhalten würden. "Wir Europäer sind Zeugen eines faszinierenden Prozesses: wir bilden den ersten nachnationalen Kontinent und die erste  nachnationale Demokratie. Fürchtet euch nicht, sondern freut euch", appellierte Menasse zum Abschluss seiner Rede an die Zuhörer.

Am Nachmittag besuchten Faymann und Renzi  gemeinsam die Baustelle des Brenner-Basistunnels. (Gerhard Murmelter, derStandard.at, 5.7.2014)