Kabul/Neu-Delhi - In Afghanistan droht der Streit um Fälschungen bei der Präsidentenwahl zu eskalieren und das Land entlang ethnischer Linien zu spalten. Der bisher unterlegene Kandidat Abdullah Abdullah fühlt sich um den Sieg betrogen und reklamierte das Präsidentenamt für sich. "Wir sind ohne Zweifel die Sieger dieser Wahlrunde", rief er am Dienstag Anhängern zu. Aus seinem Lager kamen Drohungen mit der Bildung einer Gegenregierung.
Washington reagierte alarmiert. Angeblich will US-Außenminister John Kerry bereits am Freitag nach Kabul reisen. In einem Statement warnte er, die USA würden die Finanz- und Militärhilfe einstellen, sollte es zu einer illegalen Machtübernahme kommen.
Betrug in "industriellem Ausmaß"
Am Montag hatte die Wahlkommission trotz Bedenken das vorläufige Wahlergebnis verkündet, laut dem Ashraf Ghani weit vorn liegt. Abdullah sprach von Betrug "in industriellem Ausmaß" und einem "Putsch gegen die Stimme des Volkes".
Tatsächlich mutet das Resultat überraschend an: In der ersten Wahlrunde hatte Abdullah 45 Prozent der Stimmen bekommen, der frühere Weltbank-Experte Ghani nur 31,5 Prozent. Bei der Stichwahl kam Abdullah nur noch auf 43,56, während Ghani 56,44 Prozent erhielt - und damit eine Million Stimmen mehr als Abdullah.
Dass es zu Betrug kam, bestreitet keiner. Die Frage ist, ob dieser so gravierend war, dass er das Ergebnis verfälschte. Während der frühere Außenminister Abdullah den Tadschiken zugerechnet wird, ist Ghani Paschtune. Selbst wenn sich die meisten Paschtunen, die die größte ethnische Gruppe sind, bei der Stichwahl für Ghani entschieden, wirft sein haushoher Vorsprung Fragen auf.
Entschlossenheit zum Kampf
Bei der Wahl 2009 hatte Abdullah gegen Präsident Hamid Karsai den Kürzeren gezogen - auch damals hatte er Betrug beklagt, sich aber in die Niederlage gefügt. Diesmal scheint er entschlossen, zu kämpfen. Die Spitze des Geheimdiensts und Teile der Sicherheitskräfte sollen mit Abdullah sympathisieren.
Noch ist das letzte Wort allerdings nicht gesprochen. Sowohl die Wahlkommission als auch die USA relativierten die vorläufigen Zahlen: Keiner der Kandidaten könne sich bisher als Sieger sehen. Der schwarze Peter liegt nun bei der Wahlbeschwerdekommission, die die Auszählung neu aufrollen muss. Abdullah und Ghani streiten nun darum, in welchem Ausmaß nachgezählt wird.
Endergebnis am 22. Juli
Das Endergebnis soll am 22. Juli verkündet werden, der neue Präsident am 2. August sein Amt beginnen. Ob der Zeitplan zu halten ist, ist ungewiss. Abdullah glaubt zu wissen, wer hinter dem Fiasko steckt: Er verdächtigt Karsai, den Betrug zugunsten Ghanis dirigiert zu haben, um seine eigene Rol- le zu stärken. Am Dienstag zerrissen Abdullahs Anhänger wutentbrannt Porträts des Präsidenten und schrien "Tod Karsai".
Für den Westen kommt die Krise höchst ungelegen. Die Wahlen sollten den ersten friedlichen Machtwechsel in der Geschichte des Landes markieren. Wie instabil die Sicherheitslage weiter ist, zeigte sich erneut am Dienstag: Bei einem Selbstmordanschlag im Distrikt Parwan kamen mindestens zehn Zivilisten, zwei afghanische Polizisten und vier Nato-Soldaten ums Leben. Der Anschlag sei der schwerste gegen ausländische Soldaten seit sechs Monaten gewesen, hieß es. Die Taliban bekannten sich zu der Tat. (Christine Möllhoff, DER STANDARD, 9.7.2014)