Gute Nachrichten sind keine Nachrichten; schlechte Nachrichten sorgen für Schlagzeilen. Diese banale Faustregel des Journalismus gilt auch für die Berichterstattung über Polen. Es geht dabei um den sogenannten Abhörskandal, um den Inhalt der heimlich in mehreren eleganten Restaurants aufgenommenen und kürzlich veröffentlichten Tischgespräche führender polnischer Regierungsvertreter.

Abgesehen von deftig formulierten, abfälligen Bemerkungen des ehrgeizigen Außenministers Radoslaw Sikorski über die USA und die Person des britischen Premierministers David Cameron und von den Indiskretionen in Gesprächen zwischen dem Nationalbankchef Marek Belka und dem inzwischen zurückgetretenen Finanzminister Jacek Rostowski haben die Enthüllungen zumindest bisher nicht viel Substanz erbracht. Möglicherweise dürfte allerdings Sikorski bei der Neuverteilung der Schlüsselposten in der EU den politischen Preis zahlen.

Politisch brisanter ist die Frage nach den Drahtziehern hinter dem Lauschangriff. Niemand weiß, wer aus der Regierung noch abgehört wurde und welche Tonbänder noch veröffentlicht werden. Ministerpräsident Donald Tusk hat mit einer blitzschnell gewonnenen Vertrauensabstimmung im Parlament bisher ein politisch-personelles Erdbeben verhindern können. Tusks Rede enthielt eine indirekte Andeutung auf eine russische Spur hinter dem Versuch, Polen zu destabilisieren.

Unabhängig vom Ausgang der Abhöraffäre bleibt Polen auch vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise das mit Abstand erfolgreichste Land im Vorfeld Russlands. Zwei wichtige Quellen (der jährliche Transformations-Index der Bertelsmann Stiftung und ein Sonderbericht des Londoner Economist) haben soeben den Spitzenrang Polens nach sieben Jahren der Tusk-Regierung und nach 25 Jahren seit der Wende bestätigt. Damals hatte man die Tschechoslowakei und Ungarn als hoffnungsvolle Favoriten betrachtet. Dank schmerzhafter Reformen und der Ausnützung der EU-Mitgliedschaft seit 2004 erwies sich jedoch Polen als der eigentliche und "überraschende Star Europas" (so der Economist).

Seit der "Schocktherapie" stieg das Pro-Kopf-Sozialprodukt von 33 Prozent auf 67 Prozent des EU-Durchschnitts, dank eines jährlichen Wachstums von 4 Prozent seit dem EU-Beitritt. Seinerzeit entsprach die Wirtschaft Polens etwa jener der viel größeren Ukraine; heute ist sie dreimal so groß! Die EU belohnte die polnischen Leistungen in der Verwaltung der Strukturfonds und im Kampf gegen Korruption bei der öffentlichen Auftragsvergabe mit massiver Hilfe: 102 Milliarden Euro zwischen 2007 und 2013. Polen war das einzige EU-Land ohne Rückschlag während der Finanzkrise. Das Bruttosozialprodukt war im Vorjahr um ein Fünftel höher als am Anfang der Finanzkrise, die größte Herausforderung für die Zukunft bleibt der Abbau der Bürokratie und des öffentlichen Sektors und dadurch die Ermunterung für die Rückkehr von 2,1 Millionen Polen aus dem Westen.

Dank der konsequenten pro-europäischen Außenpolitik und dem sogenannten "Weimarer Dreieck" mit Frankreich und (besonders) Deutschland ist Polen heute auch politisch ein bedeutender Faktor in Europa, nicht zuletzt bei der Suche nach einem Ausweg aus dem Konflikt mit Russland um die Zukunft der Ukraine. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 8.7.2014)