Ungebremstes Wachstum von Blutzellen bringt das System Körper aus dem Gleichgewicht. Leukämien unterscheiden sich, je nachdem, welche Blutkörperchen betroffen sind.

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Basel - Früher kam die Diagnose einem Todesurteil gleich: Leukämie, Blutkrebs. Die Krankheit zeichnet sich durch die unkontrollierte Vermehrung weißer Blutkörperchen aus. Meist bleiben die Zellen unausgereift und teilen sich ungehemmt weiter. Die normale Blutbildung kommt dabei immer mehr zum Erliegen. Es gibt diverse Typen von Leukämie, je nach Krankheitsverlauf und Ausgangspunkt. In vielen Fällen sind entartete B-Lymphozyten und deren Vorläufer das Problem. Durch radio- und chemotherapeutische Behandlungen sowie Knochenmarkstransplantation haben sich die Heilungschancen in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verbessert. In manchen Fällen kommt es aber zu Schwierigkeiten. Die Behandlung schlägt nicht an, oder man findet keine geeigneten Knochenmarkspender.

Eine vielversprechende Möglichkeit ist die Nutzung der inneren Abwehrkräfte der Betroffenen. Dazu bedarf es ausgeklügelter Tricks. "Auf sich allein gestellt ist das Immunsystem nicht besonders gut in der Krebsbekämpfung", erklärt Marcela Maus, Onkologin an der University of Pennsylvania in Philadelphia/USA. Die wuchernden Zellen entstammen schließlich dem eigenen Körper. Sie werden deshalb von den Abwehrsystemen oft nicht als gefährlich erkannt und können sich ungestört ausbreiten. Maus und ihre Kollegen wollen hier Abhilfe schaffen. Die Forscher arbeiten an der Entwicklung von Verfahren zur Umrüstung von T-Lymphozyten. Letztere werden mit künstlichen Komponenten ausgestattet, welche sie dazu befähigen sollen, Tumorzellen gezielt aufzuspüren - und zu vernichten.

Potente Chimären

Die neuen Waffen im Kampf gegen Krebs tragen die Fachbezeichnung Chimärer Antigen- Rezeptor, kurz CAR. Sie liegen ebenso wie natürliche Rezeptoren fest in der äußeren Membran der T-Zellen verankert und dienen wie diese der Erkennung potenzieller Angriffsziele. Im Prinzip lässt sich für jede Eiweißstruktur ein spezifischer CAR bauen. Das Zielmolekül, zum Beispiel CD19, ein charakteristisches Oberflächenprotein von B-Lymphozyten, wird meistens Mäusen per Injektion verabreicht. Die Tiere produzieren dagegen Antikörper, deren genaue Struktur erfasst wird und den Wissenschaftern als Blaupause für die Herstellung einer künstlichen Gensequenz dient. Dieses synthetische Erbgut schleusen die Experten mit Hilfe inaktivierter Viren in die vorher entnommenen T-Zellen eines Patienten ein. Die so behandelten Lymphozyten stellen nun den gewünschten CAR her und tragen ihn an ihrer Oberfläche. So ausgestattet sind sie bereit für ihre neue Aufgabe im Körper. Anschließend jedoch werden die T-Zellen noch im Labor zur Vermehrung durch Teilung angeregt - bis eine schlagkräftige Truppe zum Kampf gegen den Krebs bereit steht.

CTL019, ein auf CD19 zugeschnittener Rezeptor, hat in ersten klinischen Studien bereits Wirksamkeit gezeigt - sowohl gegen akute lymphoblastische wie auch gegen chronische lymphozytische Leukämie. In einer Testreihe des Teams der University of Pennsylvania wurden 22 akut erkrankte Kinder mit CTL019 behandelt. Bei 19 von ihnen trat eine komplette Remission ein. Die Krebszellen wurden offenbar allesamt vernichtet. Einer dieser kleinen Patienten war auch knapp ein Jahr nach der Behandlung noch krankheitsfrei. Ein hoffnungsvolles Ergebnis. In Versuchen mit erwachsenen, von chronischer lymphozytischer Leukämie betroffenen Personen schlug die Therapie bei 15 von 32 Studienteilnehmern an. Sieben davon erlebten eine vollständige Remission.

Naturbelassene T-Zellen können ihre Gegner auf zweierlei Weise töten, wie Marcela Maus erläutert. Zum einen verfügen die Lymphozyten über spezielle Enzyme, die Löcher in die Außenmembran einer angegriffenen Zelle fressen. Andererseits haben T-Zellen die Fähigkeit, über biochemische Signale die sogenannte Apoptose, eine vorprogrammierte Selbstzerstörung, auszulösen. "CAR-T-Zellen setzen höchstwahrscheinlich dieselben Mittel ein. Vermutlich gleichzeitig", sagt Maus.

Verträgliche Therapie

CAR-basierte Therapieansätze sind eine stark personalisierte Form der Medizin. Die modifizierten T-Zellen entstammen dem eigenen Blut des Patienten, wodurch Abstoßungsreaktionen vermieden werden. Ein weiterer Vorteil ist die Zielgenauigkeit der Behandlungen. T-Zellen mit CD19-spezifischem CAR zum Beispiel greifen ausschließlich B-Lymphozyten an. Zwar werden dabei auch die gesunden Exemplare zerstört, doch diese sind nicht direkt überlebensnotwendig. Man kann auch ohne, wie Marcela Maus betont. Das Knochenmark und die sich darin befindenden Stammzellen bleiben indes verschont - anders als bei Bestrahlung oder Chemotherapie. Der Patient kann somit bald wieder seine eigenen Blutzellen bilden und ist nicht auf eine Knochenmarkstransplantation angewiesen.

Je nach Bauweise lassen sich die künstlichen Rezeptoren potenziell auch gegen andere Tumorzelltypen einsetzen. "Nachdem sie in den Körper eingebracht werden, gehen die CAR-T-Zellen überall hin", berichtet Maus. Sogar in der Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit wurden die winzigen Krebsbekämpfer schon nachgewiesen. Eine Übersicht der bisher durchgeführten CAR-Tests wurde vor einigen Wochen im Fachjournal Blood (Bd. 123, S. 2625) veröffentlicht. Bis CTL019 und ähnliche Therapieverfahren für die alltägliche medizinische Praxis zugelassen werden können, sind noch umfangreiche klinische Studien erforderlich. Daran wird allerdings mit Hochdruck gearbeitet: Wie gerade erst bekannt wurde, erhielt CTL019 von der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA den sogenannten "Breakthrough Therapy"-Status. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 8.7.2014)