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"Selbst in russischsprachigen Medien ist die Kritik an Russland gang und gäbe."

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Medienwissenschafter Jürgen Grimm von der Universität Wien war im Frühjahr für einige Monate als Gastprofessor in der Ukraine.

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STANDARD: Sie waren im Frühjahr als Gastprofessor in Kiew. Wie haben Sie die Berichterstattung während dieser Zeit erlebt?

Grimm: Wenn man nur westliche Medien zur Verfügung hat und plötzlich an den Ort des Geschehens kommt, stellt man fest, wie Berichte und Realität auseinanderdriften. Die westlichen Medien haben den Konflikt verschärft, Journalisten haben für die eine oder andere Seite Partei ergriffen. Beides erscheint mir nicht im Sinne des Qualitätsjournalismus.

STANDARD: Haben Sie das erst so empfunden, als Sie in der Ukraine waren, oder auch schon vorher?

Grimm: Ich habe das vorher als starke Tendenz der Berichterstattung wahrgenommen, konnte es im Grunde aber nicht überprüfen.

STANDARD: Was waren Ihre ersten Eindrücke, als Sie im März in der Ukraine ankamen?

Grimm: Die Barrikaden standen alle noch. Es war eine Stimmung: er oder wir, Putin oder der Westen. Überall war die Erwartung zu spüren, dass das Land jetzt entweder von den Russen plattgemacht wird oder ein möglicher Weltkrieg entstehen könnte.

STANDARD: Das Szenario eines Dritten Weltkriegs tauchte sehr früh in den deutschen Medien auf. Ist diese Wortwahl, etwa durch Altkanzler Helmut Schmidt, nicht gefährlich?

Grimm: Schmidt war einer derjenigen, die den Konflikt nicht verschärft haben. Wandel durch Annäherung war eine sozialdemokratische Politik. Die SPD und auch die SPÖ Kreiskys haben die Öffnung dem Osten gegenüber zu einer Zeit betrieben, in der das Dogma Abgrenzung zementiert erschien. Und siehe da, der Eiserne Vorhang ist gefallen. Wer das miterlebt hat, die 1950er- und 1960er-Jahre, die Kuba-Krise, den Kalten Krieg, eine Zeit, in der ein Dritter Weltkrieg nur einen kleinen Schritt entfernt war, argumentiert plausibel, dass wir diesen Frieden nicht aufs Spiel setzen dürfen. Die Tugend des Journalismus, eine gewisse Ausgewogenheit zu bewahren, schien plötzlich wie weggeblasen mit der Krim-Krise.

STANDARD: Welche Tendenz hatte die westliche Berichterstattung?

Grimm: Zunächst eine sehr antirussische. Es wurde alles mobilisiert, was man an moralischen, politischen und ideologischen Aspekten aufbringen konnte, um hier Front zu machen. Das hatte ich zum letzten Mal in den frühen 1960er-Jahren erlebt. Das war erschreckend.

STANDARD: Gab es Unterschiede in einzelnen Ländern Europas?

Grimm: Die antirussische Tendenz war relativ ähnlich in Österreich und in Deutschland. Dann gab es eine Gegenbewegung in den Social Media, die sich als Protest an dieser Mainstream-Berichterstattung entzündet hat. Ganz deutlich war es beim "Spiegel", da war kein Unterschied mehr zur "Bild"-Zeitung. Es wurden hemmungslos Feindbilder konstruiert. Das war auch schon ein Kennzeichen der Publizistik 1914: Da haben Medien in ganz Europa durch ihre nationale Perspektive wesentlich zur Kriegsdynamik beigetragen.

STANDARD: Hat der "Spiegel" jemals auf diese Kritik reagiert?

Grimm: Eigenartigerweise nicht. Die haben unkommentiert kritische Forumsbeiträge veröffentlicht. Ein Teil dürfte von russischer Seite auch lanciert gewesen sein, da bin ich ganz bei den ukrainischen Kollegen. Das ist nicht alles Paranoia. Auf der anderen Seite war auch ehrlicher Protest erkennbar - so weit reicht der Arm Putins nun auch wieder nicht.

STANDARD: Machen Sie strukturelle Probleme in den Redaktionen dafür verantwortlich? Oder gab es wirtschaftlichen Druck auf einzelne Medien?

Grimm: Es war ein Bündel von Faktoren. Natürlich haben Journalisten notorisch zu wenig Zeit für Recherche. Die Tiefe der Analyse leidet darunter.

STANDARD: War das bei der Ukraine der Fall?

Grimm: Nach der Krim-Annexion hat man die Ukraine als Opfer gesehen und sich auf ihre Seite geschlagen. Dieser David-Goliath-Effekt war noch stärker als alle strukturellen Einflüsse.

STANDARD: Völkerrechtlich war das aber ein äußerst umstrittener Zug Russlands.

Grimm: Das ist auch heute noch eine sehr unübersichtliche Situation. Aber es geht um die Betrachtung: Wenn ich Konfliktpartei bin, verengt sich meine Perspektive auf Sieg oder Niederlage. Und dem darf Journalismus eigentlich nicht unterliegen. Wenn ich aber nach den Ursachen frage, öffnet sich der Horizont für politische Lösungen. Ich nenne das Konflikttransformation. Es geht darum, durch Analyse das hinter dem Konflikt liegende Problem zu erkennen und zu benennen. Dann können wir unsere ganze Geisteskraft darauf verwenden, nach Lösungen zu suchen, die viel mehr Handlungsoptionen eröffnen als die simple Frage: Wer gewinnt?

STANDARD: Wie sehen Sie die Rolle europäischer Politiker in der Ukraine-Krise?

Grimm: Aus der Europawahl wissen wir ja, so populär ist die EU unter den eigenen Mitgliedern keineswegs. Und wie ein Geschenk vom Himmel kommt ein Land, das sagt: 'Juhu, wir wollen nach Europa!' Das war psychologisch verführerisch für die EU, sich hier ganz auf die Seite der einen Konfliktpartei zu schlagen. Das hat Hoffnungen und Erwartungen geweckt. Nur: Die Ukraine tatsächlich zu integrieren, mit all ihren wirtschaftlichen Problemen, würde in Europa selbst zum Sprengsatz werden.

STANDARD: Sehen Sie die Probleme einer Integration nur aus wirtschaftlicher Sicht?

Grimm: Auch politisch wäre es schwierig. Es könnte die totale Konfrontation mit Russland bedeuten. Die Folgen würden wir alle zu spüren bekommen, wenn die Gasleitungen dann einmal im Winter zugedreht werden. Man verführt die Ukraine gewissermaßen zu etwas, das nicht realistisch ist.

STANDARD: Sie glauben also nicht, dass die EU die Ukraine unterstützen würde?

Grimm: Die Ukraine ist pleite, Europa würde sich total verschlucken. Sie muss in ihrer Selbstständigkeit und Souveränität nach Osten und Westen gestärkt werden. Vielleicht wird sie irgendwann EU-Mitglied, aber das ist nicht entscheidend. Was wir im Moment brauchen, ist eine neue Ostpolitik. Putin-Bashing alleine reicht nicht.

STANDARD: Hat er das nicht mit seiner Inszenierung als One-Man-Show provoziert, diese Zuspitzung auf seine Person?

Grimm: Er ist ein aktiver und erfolgreicher Kommunikator, keine Frage. Da muss man unterscheiden zwischen innen- und außenpolitischer Inszenierung. Da geht es auch um russischen Stolz.

STANDARD: Putin hat  das zaristische Großreich nicht selbst miterlebt, den Zusammenbruch der Sowjetunion schon. Überträgt sich das Bewusstsein so stark über Generationen und Zeiten hinweg?

Grimm: Ja, das Echo von 1918 zeigt sich ja auch heute noch in Österreich zum Beispiel bei der Fußball-WM. Österreicher können aus Prinzip nicht für Deutschland sein. Die frühere Größe steht in einem Spannungsverhältnis zur heutigen Wahrnehmung. Der Blick auf die Geschichte ist entscheidend dafür, wie ich in der Gegenwart Konflikte handhabe. Ob ich Gefangener meiner eigenen Geschichte bin, oder ob ich sie reflektieren kann.

STANDARD: Wie wird der Konflikt in ukrainischen Medien behandelt?

Grimm: Die Kritik an Russland ist gang und gäbe, selbst in russischsprachigen Medien. Innerethnische Konflikte bleiben aber ein Tabu.

STANDARD: Wo liegt die Ursache für den antirussischen Affekt?

Grimm: Es gibt da schon ein paar Leichen im Keller. Der "Holodomor", der Tod durch Hunger von Millionen Ukrainern in den 1930er-Jahren, wird Russland zugeschrieben. Aus russischer Sicht war das der Versuch, die Ukraine als Kornkammer der gesamten Sowjetunion dem gesamten Reich zukommen zu lassen, das wurde mit aller Brutalität durchgezogen. Das hat der Historiker Timothy Snyder eindrucksvoll beschrieben. Der Holodomor ist der negative Staatsgründungsmythos der Ukraine und gleichzeitig ihre Rechtfertigung auf Eigenständigkeit. Dieses Bewusstsein teilen nicht alle russischstämmigen Ukrainer. Und so führt der internationale Konflikt mit Russland in gewissem Maße auch zu einer inneren Instabilität der Ukraine.

STANDARD: Haben Sie ein optimistisches Szenario für die Ukraine?

Grimm: Es muss einfach eine Einigung zwischen den USA, Russland und der EU geben. Das Beste wäre ein gemeinsamer Aufbauplan für die Ukraine – auf der Grundlage der Selbstständigkeit der Ukraine und der Nichteinmischung von außen. Dann wäre das eine Chance, diesen aufkeimenden Ost-West-Konflikt mit einem Brückenstaat auf Dauer zu befrieden. Russland muss einbezogen werde, daran führt kein Weg vorbei. Oder wollen wir etwa den Dritten Weltkrieg? Wer will das schon?

STANDARD: Sie waren selbst in der 68er-Bewegung aktiv. Hätten Sie früher Ihren Protest gerne über Facebook organisiert?

Grimm: Das hätte viel schneller Wirkung gezeigt. Wobei wir heute sehen, wo das Problem liegt: Es ist eine Sache, einen Präsidenten zu stürzen, aber eine ganz andere Sache, eine funktionierende Demokratie aufzubauen. Da kann man nicht ständig Shitstorms oder revolutionäre Gewalt anwenden – weder in der Ukraine noch in Ägypten oder Libyen, und schon gar nicht in Österreich. (Julia Herrnböck, derStandard.at, 9.7.2014)