Günther Sandner: Otto Neurath. "Eine politische Biographie". Wien: Zsolnay-Verlag 2014

Cover: Zsolnay-Verlag

"Er trat auf so vielen Gebieten als Neuerer hervor, dass selbst seine Bewunderer die Übersicht über seine Leistungen verloren." Das schrieb der US-amerikanische Historiker William M. Johnston in seinem Standardwerk Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte vor mehr als vier Jahrzehnten über Otto Neurath, dem Johnston auch gleich den Titel "Universalgenie" verlieh.

Zwar haben sich seitdem Wissenschafter aus vielen Ländern und den verschiedensten Disziplinen in zahlreichen Buchveröffentlichungen mit den unzähligen Innovationen von Otto Neurath befasst. Eine umfassende Biografie Neuraths stand indes bis vor kurzem aus.

Diese Lücke hat nun der Wiener Politikwissenschafter Günther Sandner geschlossen - mit einem eindrucksvollen Buch, das sich vor allem auf das einflussreiche intellektuelle und politische Leben des Soziologen und Ökonomen konzentriert und dabei etliche völlig neue Aspekte zutage fördert.

So rekonstruiert Sandner im Detail, wie Neurath bereits als Student in Wien und Berlin stark in etliche politische Debatten involviert gewesen ist. Die Anregung dazu kam, ebenfalls eine Neuentdeckung, von zwei Frauen: der schwedischen Schriftstellerin und Reformpädagogin Ellen Key, mit der Neurath in jungen Jahren korrespondierte, sowie der um fünf Jahre älteren Nationalökonomin und frühen Feministin Anna Schapire, die Neurath 1907 heiratete.

So vielgestaltig sich Neuraths weitere Forschungstätigkeit entwickelte, so turbulent verlief sein Leben: Er wurde Professor an einer Wiener Handelsakademie, war 1919 Leiter des Zentralwirtschaftsamts in München und wurde nach dem Scheitern der Räterepublik zu einer Haftstrafe verurteilt. Erst nach Interventionen von Staatskanzler Renner und Außenminister Bauer gelangte er wieder nach Wien, wo er freilich keine Chance auf eine akademische Karriere hatte.

Vielfalt von Aktivitäten

Also entwickelte Neurath außerhalb der Universität eine kaum nachvollziehbare Vielfalt von Aktivitäten, die Sandner in seiner Biografie kenntnisreich nachzeichnet: etwa seine Arbeit im Philosophenzirkel Wiener Kreis, dessen "große Lokomotive" er war, oder sein Engagement in der Siedlungsbewegung. In Wien hat Neurath noch viele andere Spuren hinterlassen: Er war unter anderem Gründer des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums und erfand hier die Methode der Bildstatistik und Piktogramme, die sich weltweit durchsetzen sollte.

Im Jahr 1934 war der Antikommunist Neurath gerade in der Sowjetunion, als die Austrofaschisten die Macht übernahmen. Um der Verhaftung zu entge- hen, flüchtete er in die Niederlande, von dort weiter nach Oxford, wo er im Dezember 1945 starb, ohne nach Wien zurückgekehrt zu sein.

Sandners Biografie rekonstruiert auf rund 300 Seiten nicht nur ein beeindruckendes Intellektuellenleben. Sie vermittelt auch, warum etwa Neuraths ökonomische Schriften gerade auch im Lichte der aktuellen Krisen der Finanzwirtschaft eine Lektüre wert wären. Und sie vermittelt eindrucksvoll, warum der "Wissenschafter des Glücks" (so Neurath über Neurath), der das utopische Denken stets für vereinbar mit Wissenschaft gehalten hat, heute vielleicht aktueller ist denn je. (tasch, DER STANDARD, 9.7.2014)