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Als ich mir im März 1999 das legendäre 0:9 des österreichischen Nationalteams gegen die dazumal noch gar nicht Tiqui-taca-treibenden Spanier in einem Beisl anschaute, saß neben mir ein Mann, der mit Fortdauer des Spiels immer blasser wurde. Irgendwann zwischen dem sechsten und dem siebenten Treffer sagte er mit leiser Stimme: "Fußball ist doch ein Sport, der davon lebt, dass nur wenige Tore fallen." Diese vor 15 Jahren ganz und gar nicht gelassen ausgesprochene Wahrheit erhob der deutsche Fußball-Physiker Metin Tolan in seinem Buch "So werden wir Weltmeister. Die Physik des Fußballs" (2010) auf empirischer Basis zum Theorem der "Unwahrscheinlichkeit des Torerfolgs". In Abwandlung des Beislphilosophen könnte man formulieren, dass Fußball der unausgesetzte Versuch der Überwindung dieser Unwahrscheinlichkeit ist. In einfachen Worten: Tor ist, wenn man trotzdem trifft.

Insofern stellten jene zehn Minuten von Belo Horizonte samt ihrer vier Tore den absoluten und für die Finalphase einer WM im Grunde unwürdigen Ausnahmezustand dar. Tolans Theorem wurde von seinen Landsleuten so gründlich auf den Kopf gestellt, dass man nicht mehr von einem Fußballspiel auf Augenhöhe sprechen konnte. Die Schockstarre der Brasilianer war zugleich die einzig kollektive Leistung, die man aus der Selbstauflösung des Teams in Panik und Verzweiflung ablesen konnte. Durch das Fehlen von Neymar und vor allem von Thiago Silva war der letzte Rest von Resilienz abhandengekommen, mit dem sich die auch in ihren bisherigen Spielbemühungen weitgehend akzentfreie Truppe bis in dieses Halbfinale gerettet hatte. Dort auf das offensiv am besten eingespielte Team des Turniers zu treffen, besiegelte gleichsam ante festum die Schmach für den Gastgeber.

In Abwandlung eines berühmten Satzes des deutschen Philosophen Friedrich Hegel lässt sich sagen: Die Tragödie von Maracanã 1950 (1:2 gegen Uruguay) kehrte 2014 als Farce von Belo Horizonte wieder. Das "tosende Schweigen" von damals mündete nunmehr in gellende Pfiffe für die Selecao und respektvollen Applaus für die Deutschen. (Helmut Neundlinger, Umsetzung für derStandard.at: Florian Gossy, Markus Hametner, 9.7.2014)