Ramadan-Trommler ist wahrscheinlich einer der undankbarsten Jobs der Welt. Um kurz vor zwei Uhr in der Früh zieht er donnernd durch die Straßen von Kurtuluş, damit alle gläubigen Muslime rechtzeitig erwachen und ihr "sahur" essen können - die letzte Mahlzeit, bevor das tägliche Fasten zum Sonnenaufgang beginnt. Die Vibration der Trommel bringt auch immer die Alarmanlagen mehrerer Autos in Gang. Die Folge sind aufgerissene Fenster und Münder, aus denen Flüche, Beschimpfungen und manchmal auch eine Kübelladung voll Wasser kommen.

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Ein Ramadan-Trommler bei der Arbeit.
Foto: REUTERS/NIKOLA SOLIC

Ramadan in Istanbul. Das ist nicht nur die Zeit des Fastens und frühen Aufstehens, sondern auch die Zeit der sozialen und kulturellen Höhepunkte. Von den Minaretten strahlen Lichterketten in Buchstabenform religiöse Botschaften aus. Große Plätze verwandeln sich in Bühnen für Konzerte, Tanzvorführungen und Schattenfigurentheater.

Nach Sonnenuntergang ist Jahrmarkstimmung

Zum abendlichen Fastenbrechen ziehen Familien mit Wolldecken, Klappsesseln und Kühlboxen zum Picknick in die Parks, und die Gegend rund um das Hippodrom wird für die Dauer des Fastenmonats zu einem Jahrmarkt, der von picksüßen Naschereien über Gebetsketten bis zum modischen Kopftuch alles für das Ramadan-Shopping nach Sonnenuntergang bereithält.

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Foto: REUTERS/MURAD SEZER

Tagsüber jedoch liegt eine schläfrige Stimmung über der Stadt, das Leben läuft langsamer als üblich. Wer jeden Tag noch vor der Morgendämmerung aus dem Schlaf getrommelt wird, fühlt sich gerädert und erschöpft. Wer gar nicht fasten muss, ist besonders genervt. Und nicht nur in Kurtuluş, einem überwiegend von Nichtmuslimen bewohnten Stadtviertel Istanbuls, ist die Ramadan-Trommelei unbeliebt. In vielen Orten der Türkei wird über die Abschaffung dieser Tradition diskutiert, und regelmäßig berichten die Zeitungen von Massenschlägereien zwischen Befürwortern und Gegnern. Da ist der Job als Teppichreiniger oder Staubsaugervertreter in Istanbul eindeutig die bessere Wahl und krisensicher noch dazu.

Es reicht ein schlumpfblaues Tuch

Müde, weil einen der Trommler seit einer Woche aus dem Schlaf schlägt, sitzt man im Innenhof der Blauen Moschee und sinniert über die wunderbare Auslegeware, die Istanbuls Gebetshäuser füllt. Wer die alle schmutz-, staub- und vielleicht sogar milben- und mottenfrei hält, hat Arbeitslosigkeit nicht so schnell zu fürchten. In diese Überlegungen plärrt eine Besuchergruppe. Beim Anblick derselben erwischt man sich bei dem Gedanken: Viel braucht es nicht, um lächerlich auszusehen. Es reicht schon ein schlumpfblaues Tuch, das einem Touristen blößebedeckend um Muskelshirt und Minirock gewickelt wird.

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Im Ramadan haben Reinigungskräfte Hochsaison. Im Bild: Das gewissenhafte Saugen der Teppichböden für das Freitagsgebet in der Süleymaniye-Moschee.
Foto: REUTERS/MURAD SEZER

Zwischen all den Blauen taucht plötzlich ein Aschgrauer auf. Unter der Kapuze seines ranzigen Sweatshirts quillt filziges Haar hervor, darunter ist sein wirres Gesicht zu sehen: seine Augen flackern permanent, seine Wangenmuskeln zucken, seine Lippen zittern. Wie ein Tiger im Käfig schreitet er jetzt die Seiten des Innenhofes ab, immer und immer wieder. Für eine Sekunde presst er seine Stirn gegen die Marmorwand, stößt sich dann mit beiden Händen kräftig davon ab und beginnt sich wie einer jener Derwische des Sufi-Ordens zu drehen, die durch ihren ekstatischen Trancetanz Kontakt mit Allah aufnehmen wollen. Derwisch, das bedeutet wörtlich übersetzt so viel wie: "Der, der vor der Tür bettelt". In Istanbul sind sie mit ihrem Drehtanz zur Touristenattraktion geworden, quasi als folkloristische Variante des Islams.

Sein Blick ist von allen Geistern verlassen

Der Aschgraue zieht Aufmerksamkeit auf sich. Seine aufgerissenen Hosenbeine flattern, und aus seiner mit ihm rotierenden Umhängetasche fliegen Zigarettenstummel und zerknülltes Papier und landen weit über den ganzen Boden verteilt - seine Habseligkeiten. Dann, als hätte jemand die Stopptaste gedrückt, hält er an und schaut einem direkt in die Augen. Es ist ein von allen Geistern verlassener Blick, dem man nicht standhalten kann.

Der Aschgraue trägt keine Schuhe, seine nackten Füße sind kohlrabenschwarz, seine Zehennägel sind so lang und krumm wie Bärenkrallen. Was ist stärker - die Angst oder das Mitleid? Man will ihm Geld geben, aber er beginnt sich wieder zu drehen: die Arme seitlich ausgestreckt, den Kopf weit in den Nacken gelegt, so als wäre er bereit, alles Gute von oben zu empfangen. Doch dann greifen ihn zwei Hände von der Seite und führen ihn aus dem Innenhof ab.

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Derwische bei ihrem Auftritt vor dem Iftar-Mahl, das zum Fastenbrechen verteilt wird.
Foto: REUTERS/Murad Sezer

Hat er die Schlumpfblauen geängstigt? Weit weg bringen ihn die Wachmänner jedenfalls nicht. Er sitzt jetzt auf der untersten Stufe der Stiege zum Moscheeeingang. Er hält eine jener Styroporpackungen in der Hand, in denen jeden Abend nach Sonnenuntergang das Iftar-Mahl zum Fastenbrechen verteilt wird. Überall in der Stadt lassen Gemeinden und private Sponsoren Zelte aufstellen, in denen nicht nur fastende Muslime, sondern auch Obdachlose, Andersgläubige und Touristen zur gemeinsamen Iftar-Mahlzeit zusammenkommen können.

Auch wer im Stau steckt, wird von seinem Hunger erlöst. Mobile Buffets versorgen die Autofahrer mit Wasser, Tee, Brot und Datteln. Der Aschgraue hat sein Paket vermutlich erhalten, um die Besucher der Moschee nicht weiter zu stören. Er öffnet die Packung und verfüttert das Fleisch darin an zwei Katzen. Was für ein Idiot! Oder?

Erleben, wie es ist, kein Essen zu haben

Während des Ramadan-Fastens sollen die Gläubigen erleben können, wie es Menschen ergeht, die kein Essen haben. Ein letztes Mahl vor Sonnenaufgang, dann Verzicht bis zum Sonnenuntergang, immer in der Gewissheit, dass am Ende des Tages das Darben ein Ende hat. Weiß man nach solchem Fasten, wie sich der fühlt, der am Ende keines Tages von seinem Hunger erlöst wird?

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Am Ende des Ramadans steht das dreitägige Fest des Fastenbrechens - Eid al Fitr - mit wurstelpraterähnlicher Optik in der gesamten Stadt.
Foto: EPA/STR

In solch grüblerischer Stimmung geht es quer durch die Stadt nach Kurtuluş zurück. Auf der Stiege vor dem Hauseingang sitzend, wartet man auf den Ramadan-Trommler. Man will dabei sein, wenn das Wummern die Alarmanlagen in Gang setzt, sich Fenster und Münder öffnen und Flüche herabfallen. Die Vorstellung, dass in der islamischen Welt viele wache Denker in der Dämmerung sitzen - Muslime und Nichtmuslime - ist tröstlich. (Nicole Quint, Rondo, DER STANDARD, 11.07.2014)