1) Zu einer WM gehören vorab auch die Rendezvous der Propheten. Die sagen viel Wahres und reden viel Unsinn, darüber richtet die Realität.

Ich zum Beispiel dachte, dass die Holländer und Franzosen die Vorrunde nicht überstehen würden. Andererseits war ich mir sicher, dass Kolumbien (mindestens) das Viertelfinale erreicht. Am Ende geht aber natürlich jeder nur mit seinen "Ich habe es euch ja gesagt"-Weisheiten hausieren.

2) Eine davon war in meinem Fall: Dieses brasilianische Team wird nie, nie, nie Weltmeister! Ich habe sogar mehrere Wetten mit Freunden darauf abgeschlossen. In diesem Sinne war ich tatsächlich verwundert, mit welcher Überzeugung zahllose sogenannte Fußballexperten Brasilien als Topfavoriten gesehen haben. Warum bitteschön?Ich erklärte mir das als Reflex (der aber normalerweise eine Sache der Laien ist).

Basierend auf zwei Motiven:

a) Heimvorteil,

b) Brasilien steht grundsätzlich für Fußballkunst.

Zwei grobe Irrtümer.

3) Heimvorteil? Die Weltmeisterschaft im eigenen Land muss nicht zwangsläufig beflügelnd sein. Bei den 15 Endrunden nach dem Krieg gelang es dem Gastgeber nur viermal, den Titel zu holen. Davon waren zwei auch noch höchst umstritten (1966 England und vor allem 1978 Argentinien).

Für Brasilien war dieses ganze tränenreich-pathetisch aufgeladene Siegen-für-das-Volk-Theater zweifelsohne eher eine extreme Drucksituation, die Hürden aufbaute, Schultern schwer werden ließ und kaum qualitative Entfaltung zuließ.

Im Gegenteil. Die Brasilianer spielten von Beginn an ideenlos und schlecht. Nur der Wille und das Glück konnten den meiner Meinung nach schon in der Vorrunde eindrucksvoll gescheiterten Anspruch auf die große Trophäe kaschieren. Möglicherweise bis zur Selbsttäuschung.

4) Fußballkunst? Seit ich mich für Fußball begeistere (also lang), habe ich noch bei keinem Turnier eine so erschreckend uninspirierte brasilianische Mannschaft gesehen. Die offenbar nur zwei taktische Varianten im Repertoire hatte: erstens Standardsituationen und zweitens Neymar-mach-was!

Ansonsten: ein Team ohne Impulse von Außenverteidigern, ohne kreative Kraft im Mittelfeld, ohne Ballkünstler im Angriff. Viele kritisierten, dass Trainer Scolari für dieses Team keinen Plan B hatte. Ich behaupte: Es gab nicht einmal einen Plan A.

Neben (gemessen an der Weltspitze) durchschnittlichen Persönlichkeiten wie Fernandinho, Paulinho oder Luis Gustavo, wie Maicon, Ramires oder Willian, wie Bernard, Jo oder Jefferson wurde ein Mann namens Fred zum Sinnbild eines Versagens. Ein Stürmer, der von der ersten WM-Minute an so (überaltert) wirkte, als würde er seit längerem schon seine Karriere beim SKN St. Pölten ausklingen lassen. Ein Stürmer, der dennoch in jeder Partie von Beginn an spielen durfte. Und zwar deshalb, weil es ernsthaft im gesamten Kader keine Alternative gab.

Wer aus den letzten 20 Jahren Torgaranten und Spielwitzbolde wie Ronaldinho und Ronaldo, Rivaldo und Romario im Kopf hat, der mag im Angesicht eines umherirrenden Fred zu heulen beginnen. Der soll Brasilien sein? Nein. Der wurde am Ende sogar von den eigenen Fans ausgepfiffen. Mehr Schmach geht nicht. Sehr unschön.

Und ungerecht auch noch. Denn wenn schon so viel brasilianischer Fan-Frust, dann hätte er sich auch am Kollegen Hulk entladen müssen. Der war nämlich mindestens genauso inferior, schaute dabei nur lustiger aus.

5) Das ganze epische Blabla, man müsse jetzt für Neymar kämpfen, spielen und siegen, wurde von Deutschland gnadenlos als das entlarvt, was es war: Verzweiflung.

Neymar war vom ersten Anpfiff an der Inbegriff jener Klasse, jenes Selbstvertrauens, jener Hoffnung, auf die sich eine Mannschaft, eine Nation für dieses Turnier stützte. Und er konnte es auch lange genug richten.

Trotzdem hätte Brasilien schon im Achtelfinale gegen Chile ausscheiden müssen. Stattdessen hob sich die Selecao die Wahrheit, die auf dem Platz liegt, noch auf.

Die da lautet: Gegen Deutschland fehlte nicht nur die grundsätzliche Potenz eines Weltmeisterteams, nicht nur der Kapitän, nicht nur der Superstar, nicht nur der Trainercoup, sondern auch noch die Strategie, die Flexibilität und zuletzt der Glaube. Wer nach einem 0:1 so in sich zusammenstürzt, der weiß unbewusst, warum er das tut. Brasilien war bereit für die Bestrafung.

Die deutschen Spieler nahmen daher die Flut von Geschenken dankbar wie humorlos an und servierten einer tragischen Stolpertruppe eine stolze Rechnung. Die fiel freilich für uns alle überraschend heftig aus. Aber: Das 7:1 war auch in dieser Höhe gerechtfertigt! (Michael Hufnagl, Leserkommentar, derStandard.at, 9.7.2014)