Surreale, überdimensionierte Giftpilze im Augarten: Hybride aus Fliegenpilz, Elstern-Tintling, Hallimasch und Schwefelporling.

Foto: andy urban

Kluger Kopf: Künstler Carsten Höller.

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Wien - Die Uhren von Carsten Höller ticken anders. Statt mit Sechzigsteln operiert das Ziffernblatt mit Dezimalstellen und Teilungen, deren Bruchstücke immer kleiner werden, bis die Zeithälften irgendwann so winzig sind, so Höller, dass sie in jene Sphäre kippen, wo es keine Zeit mehr gibt. Auch nach dem Genuss von Fliegenpilzen gerät man in ein nicht-tödliches Delirium, in dem man nicht mehr weiß, wie viel Zeit vergangen ist, erklärt Höller.

2006 installierte er riesige Röhrenrutschen in der Tate Modern. 2008 entschleunigte er im Kunsthaus Bregenz mit einem schneckenschnellen Karussell. 2010 ging es in seiner mit Rentieren bevölkerten Schau in Berlin darum, sich auf die Suche nach dem mythischen Trank Soma zu machen. Jetzt kann man sich in Höllers für die Nachwelt hinterlassenem Versuchsaufbau in den Räumen der TBA21 im Augarten daran erinnern, was Lebendigsein bedeutet: Leben (bis 23. 11.) heißt die Schau. Draußen stehen überdimensionierte Giftpilze, drinnen kann man im Flotation-Tank schwerelos sein oder gesangstrainierten Dompfaffen lauschen. Wer will, kann in diesem besonderen Rahmen, zu gestaffelten Preisen, auch nächtigen. Und träumen.

STANDARD: Die exklusiven Übernachtungsmöglichkeiten gibt es in Ihren Ausstellungen immer wieder. Warum?

Höller: Ich glaube, dass es sehr viel ausmacht, mit wem man Kunst anschaut - was für Menschen sich zufälligerweise auch in der Ausstellung befinden. Alleine hat man vielleicht einen ganz anderen Zugang. Ich habe das etwa in Bregenz oder im Guggenheim Museum in New York gemacht; sehr eindrücklich fand ich es auch im Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam. Dort hatte man die Gelegenheit, nachts in der Notbeleuchtung des Museums, die fantastischen Pieter Bruegels und Hieronymus Boschs nur mit der Taschenlampe verstärkt zu sehen.

STANDARD: Nacht und Schlaf sind symbolisch stark aufgeladen. Was interessiert Sie am Schlaf?

Höller: Ich finde den Moment kurz davor und danach besonders interessant - der Moment beim Aufwachen, wenn man noch nicht ganz bei Sinnen ist, bevor sich Dinge in ihre Ordnung und Hierarchie setzen, in der sie dann den ganzen Tag über verbleiben, wenn alles noch diese gewisse Leichtigkeit hat. Ich glaube, dass man in diesem Zustand des Vorrationalen Kunst anders wahrnehmen kann.

STANDARD: Für Träume ist auch gesorgt. Der Schlafgast im Augarten kann trauminduzierende Zahnpasta benutzen.

Höller: Ja, das gibt es hier erstmals. Und man kann sich mit dem Aufzugbett in einer Schraubenbewegung auch auf die Höhe von 3,50 Meter hinauffahren. Mit letzter Kraft kann man sich kurz vor dem Einschlafen gewissermaßen nach oben, in die Unendlichkeit schrauben.

STANDARD: Im Hamburger Bahnhof diente die Betthöhe auch dazu, dass einen die Rentiere nicht anknabbern. Hier ist es funktionslos.

Höller: Nein, es geht wirklich um Erhebung, um das Herausheben aus dem Alltäglichen.

STANDARD: Um erhebende Kunst?

Höller: Ja. Das wird jetzt einmal ganz wörtlich genommen und technisch, praktisch umgesetzt. Werden wir mal sehen, ob es funktioniert. Aber mit der Zahnpasta gibt es ja ein weiteres Hilfsmittel.

STANDARD: Faltencremen dürfen nicht wirken, weil sie sonst Arzneien wären. Wie ist das mit Substanzen, die in Kunsträumen konsumiert werden?

Höller: Wir haben viel recherchiert. Es ist eine Zahncreme, die Träume quasi herbeilotst und hilft, dass man sich beim Wachwerden besser daran erinnern kann -, die also sowohl verstärkend als auch konservierend wirkt. Es ist auch kein Geheimnis, was drinnen ist. Beim Aktivator benützen wir Wermutöl, das auch im Absinth vorhanden ist, das einzige alkoholische Getränk, von dem man weiß, dass es stark trauminduzierend ist.

STANDARD: Sie wurde mit Wissenschaftern entwickelt?

Höller: Nein, wir arbeiten nicht gerne mit Wissenschaftern, wir sind ja eigentlich Anti-Wissenschafter. Die Wissenschaft hat einen solchen Platz als Erklärungsmodell für Dinge, die wir verstehen sollen, eingenommen und dabei alle anderen Erklärungsmodelle verdrängt. In Wien geht es eher um die Bereinigung vom Körperlichen und darum, einen Raum zu schaffen, wo man sich außerhalb von gewohnter Logik bewegen kann.

STANDARD: Der Kunstbesuch wird bei Ihnen zum sinnlichen Erlebnis, etwa zum Rutschvergnügen. Vieles hat mit dem Ausschalten von Ratio zu tun. Warum ist das wichtig?

Höller: Ich glaube nicht, dass man die Ratio wirklich ausschalten kann, aber sie ist etwas, was man anerzogen hat. Die Logik, unter der sie sich bewegt, ist allerdings eine kulturelle. Sodass sich die Frage stellt, ob wir ganz generell Möglichkeiten haben, das noch mal ganz neu aufzurollen. Und der erste Schritt wäre also der, in einen Zustand hineinzugeraten, wo die Logik/Vernunft und vielleicht auch dieses Bedürfnis nach Vorhersage der Zukunft nicht mehr so greift. Gemeinsam darüber nachzudenken, wie man anders damit umgehen kann, das fände ich gut. Aber die Situation ist so: Das ist der Weg, und der wird jetzt gnadenlos begangen.

STANDARD: Ist das auch der Grund, warum Zeit in Ihren Arbeiten relativ wird?

Höller: Auch Zeit ist eine Konvention. Man muss verstehen, was Konvention ist und was naturgegeben: Wo kann man also dran rütteln, und was ist in Stein gemeißelt? Vielleicht existiert Zeit auch nur, weil man an sie denkt. Wenn man nicht an sie denkt, wie im Schlaf, ist sie verschwunden. Wenn man Zeit anders denkt, kann sie vielleicht auch einen anderen Charakter annehmen. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 10.7.2014)